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Die verlorenen Kinder Russlands

Hunderttausende Straßenkinder gibt es in Putins Reich. Man hat sich an sie gewöhnt. Sie bilden eine eigene Schattenwirtschaft der Ausgebeuteten

aus Moskau BARBARA KERNECK

Horden von Kindern durchstreiften plündernd Dörfer und Städte. Erzählungen über diese so genannten Besprisoniki, die „Unbeaufsichtigten“, als Landplage nach dem Bürgerkrieg in den 20er-Jahren, waren noch in den letzten Lebensjahren der Sowjetunion fester Bestandtteil des Geschichtsunterrichts. Das Phänomen schien der Vergangenheit anzugehören. Heute gibt es in den russischen Großstädten hunderttausende von minderjährigen Prostituierten, BettlerInnen, Autowäschern und VerkäuferInnen – und kaum ein Passant dreht sich deshalb um. Doch Mitte Januar fielen sie jemandem auf, nämlich dem Präsidenten Wladimir Putin. Der beschimpfte öffentlich die Regierung wegen ihrer Unlust, das Problem anzugehen. Zumindest in Moskau sind seither Kinder, die auf der Straße lebten, wie von ihr fortgefegt. Die Ministerien überschlagen sich mit Maßnahmen zu ihrer Registrierung und Unterbringung. Sie scheinen den Umfang dieser Bevölkerungsgruppe stark unterschätzt zu haben.

Mitte Februar hat die russische Sektion der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zwei soziologische Studien über die Situation der auf den Straßen Moskaus und Sankt Petersburgs arbeitenden Kinder veröffentlicht. Deren Gesamtzahl hat auch diese Organisation eher bescheiden angesetzt, vor allem in Moskau, wo sie von 35.000–50.000 solcher Jugendlicher im Alter unter 18 ausgeht. Demografen meinen dagegen, dass die Zahl dieser Kinder dort fast eine halbe Million beträgt.

Auf welche Weise sie sich durchschlagen, davon vermittelt die ILO-Studie einen Eindruck. Neu eingeführt hat sie außerdem den auf die verschiedensten Gruppen anwendbaren Oberbegriff „Working Street Children“. „Unbeaufsichtigt“ sind die wenigsten, die Mehrzahl wird von Erwachsenen kontrolliert und ausgebeutet, von Jugendlichengangs, Drogenhändlern und Zuhältern. Wer von den Kindern Reklamezettel austrägt, Altmetall sammelt oder putzen geht, hat Glück. Ein großer Teil der Befragten übt Tätigkeiten aus, welche die ILO-Konvention für Minderjährige als „schlimmste Formen“ der Kinderarbeit“ geißelt. Sie tragen Schwerstlasten, prostituieren sich, stehlen und handeln mit Drogen. Ein Prozent der Kinder gaben an, zu ihrer Arbeit ständig gezwungen zu werden. Sie leben also praktisch in Sklaverei.

Waisen sind nur die Minderheit der auf Russlands Straßen arbeitenden Kinder. Fast 70 Prozent wohnen sogar zu Hause. Jedes Vierte schuftet, um seine Familie zu unterstützen. Etwa ein Drittel aber wird als „soziale Waisen“ bezeichnet. Das heißt: Ihre Eltern können oder wollen sich nicht um sie kümmern. Viele sind Kinder von Alkoholikern und wurden zu Hause misshandelt. Immer häufiger kommt es auch vor, dass Eltern ihre Kinder auf den Bahnhöfen der Großstädte bewusst „verlieren“.

Armut der Familien ist der erste und wichtigste Grund, der Kinder auf die Straße zwingt. Aber die ILO macht auch den mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion verbundenen Wertewandel und Orientierungsverlust bei den Erwachsenen für die Misere der Kinder verantwortlich. Zumindest erklärt er die bisherige Gleichgültigkeit der Öffentlichkeit. Wenn es früher dem gängigen Ethos entsprach, ohne materielles Eigeninteresse zu arbeiten, so wird heute vielfach das Geldverdienen um seiner selbst willen verherrlicht.

Die jetzt hastig erweiterten Auffangheime für jugendliche Streuner können sie auf die Dauer nicht behalten. Aber die unveränderte Praxis, die Kinder von den Auffangheimen zurück in ihre Familien oder in staatliche Internate zu schicken, wird kaum greifen. Die sozialen Waisen wollen in der Regel weder in ihre Familie zurück noch in staatliche Internate. Sie werden die nächstbeste Gelegenheit nutzen, um von dort wieder auszureißen. Gerade die zum harten Kern der Straßenkinder gehörenden StreunerInnen sind zumeist einfach untergetaucht. Wenn die Kampagne vorbei ist, werden sie wieder ans Licht kommen.Viele von ihnen würden gern in einer Pflegefamilie leben.

Mit Schrecken stellt man jetzt in den Auffangheimen der russischen Großstädte fest, dass mindestens die Hälfte der hier Eingelieferten Analphabeten sind. Doch die von der ILO befragten Straßenkinder fühlen sich „normalen“ Gleichaltrigen keineswegs unterlegen. Sie glauben, das Leben und die Menschen besser zu kennen. Hinter ihrer aufgesetzten Bravour verbirgt sich jedoch Unsicherheit. Die Frage „Wenn du jüngere Geschwister hättest, würdest du wollen, dass sie die gleiche Arbeit tun?“ wurde von zwei Dritteln verneint.

Die Zahl der in Moskau und Sankt Petersburg auf der Straße arbeitenden Kinder wird vorerst kaum abnehmen. Aber Putins Initiative und die Untersuchungen der ILO haben der Gesellschaft einen Denkanstoß gegeben. Die Suche nach neuen Strukturen für die Arbeit mit den betroffenen Kindern beginnt. Unter anderem liegt der Duma ein Gesetzesentwurf zur Einführung von Ombudsleuten für Kinderangelegenheiten vor. Langsam setzt sich die Einsicht durch, dass es kein Naturgesetz sein kann, wenn zehntausende in Russland ohne Schulbildung aufwachsen, dass ihre Zukunft die Zukunft des Landes ist.

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