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Nicht nur die Ökonomie zählt

Konrad Seitz sieht China auf dem Weg zur Weltmacht, blendet jedoch die innenpolitischen Probleme aus

Chinas Größe und Heterogenität bietet Argumente für fast jede These über die Entwicklung des Landes. Dementsprechend unterschiedlich sind die gängigen Szenarien: Nicht wenige Experten prognostizieren düster den gewaltsamen Zerfall der Volksrepublik, andere glauben an die mühsame Fortsetzung von Reformen. Einige Optimisten schließlich rechnen weiterhin mit einem ungebremsten Wirtschaftswachstum, das mit einem globalen Machtgewinn einhergeht.

Ein Vertreter dieses Szenarios ist Konrad Seitz. Er war von 1995 bis 1999 deutscher Botschafter in Peking und hat nun sein neuestes Buch unter dem thesenhaften Titel „China. Eine Weltmacht kehrt zurück“ veröffentlicht. Seitz’ Buch ist über weite Strecken sehr spannend, kenntnisreich und gut geschrieben. Hätten Verlag und Autor nicht auf ein Register verzichtet, das den Zugang zu einzelnen Themen erleichterte, hätte es zweifellos das Zeug zu einem Standardwerk der chinesischen Geschichte.

„Vollendete Zivilisation“

Zunächst widmet sich Seitz historisch dem Reich der Mitte als einst „vollendeter Zivilisation“. Danach analysiert er Chinas Abstieg bis hin zum Zusammenbruch der konfuzianischen Welt und dem Ende des Kaiserreichs, wobei er sich auch mit der fatalen Abschottung der eins mächtigen Seemacht China befasst, die erst auf Druck der westlichen Welt endete. Er berichtet vom Hadern der Chinesen mit ihrer eigenen Kultur und ihrem neidvollen Blick auf das benachbarte Japan, das Ende des 19. Jahrhunderts wesentlich reformfähiger war.

Seitz analysiert zudem die Herrschaft der Kuomintang – ebenso wie die Politik des Großen Vorsitzenden Mao Tse-tung, einschließlich der verhängnisvollen Kulturrevolution („Tabula rasa“) in den Sechzigerjahren. Ausführlich werden auch die von Deng Xiaoping eingeleiteten Wirtschaftsreformen untersucht. Besonders diesen Ansätzen zollt der Autor großen Respekt. Er betont, dass die Reformen nicht nur über 200 Millionen Menschen aus der absoluten Armut befreiten, sondern auch alle Vorhersagen bei weitem übertrafen: „Kein Ökonom hatte geglaubt, dass ein so riesiges Agrarland wie China über zwanzig Jahre lang eine Durchschnittswachstumsrate von fast zehn Prozent pro Jahr erreichen könnte.“

Diese Feststellung verleitet Seitz dazu, das Wachstum der letzten zwanzig Jahre gleich für die nächsten zwei Dekaden fortzuschreiben. Das ist schon etwas erstaunlich, da er doch Dengs Reformen durchaus differenziert analysiert und die Probleme der gegenwärtigen Wirtschaftspolitik von Premierminister Zhu Rongji genau erkennt.

Unbeirrt aller, auch seiner eigenen Einwände, meint Seitz jedoch: „Es wird nur noch wenige Jahre dauern, bis China zum Herausforderer der japanischen und westlichen Industrie aufsteigt.“ Als Vorboten dafür führt er etwa einen Telekommunikationsausrüster aus Shenzhen an, der Siemens in Pakistan schon einen Auftrag wegschnappte.

Die besten Unternehmer

Chinas Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) wird laut Seitz für eine Effizienzsteigerung der Wirtschaft sorgen und bewirken, dass chinesische Firmen auf Auslandsmärkten zu ernsthaften Konkurrenten werden. Ohnehin zeige das Beispiel Taiwan schon heute, „dass die Chinesen die besten Unternehmer der Welt sind – vorausgesetzt, man lässt ihnen die Freiheit zum Unternehmertum.“

Nach einer Lesung von Seitz in Berlin äußerte sich ein chinesischer Diplomat im privaten Gespräch peinlich berührt von dessen Optimismus: „Meines Erachtens sind die Probleme viel schwerwiegender, und ich bin mir überhaupt nicht sicher, ob wir sie bald in den Griff bekommen.“ Zwar gehört Untertreibung auch zur Politik, doch die Schwäche des Buches besteht darin, dass Seitz Probleme wie Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörung, Korruption und die Unausweichlichkeit politischer Reformen zwar klar darstellt, aber sie bei seiner Fortschreibung des Wirtschaftswachstums völlig ausblendet. Die Falun-Gong-Sekte, die ein Indikator für die geistige Leere im Lande ist und der KP zu Recht große Kopfschmerzen bereitet, ist Seitz nur eine einzige beiläufige Erwähnung wert.

Dabei schreibt er selbst, dass China die Diktatur in der jetzigen Form nicht mehr sehr lange wird durchhalten können und kritisiert deutlich: „Das am schwersten zu überwindende Hindernis für eine wirkliche Entfaltung des Privatsektors liegt in der Partei selbst. Ihr Ziel, eine Marktwirtschaft und die dazugehörende Herrschaft des Rechts aufzubauen, und ihre Ziele, die eigene Alleinherrschaft auch in der Wirtschaft uneingeschränkt zu erhalten, stehen miteinander in einem fundamentalen Konflikt.“

Wer jedoch wissen will, wie dieser Konflikt künftig gelöst werden könnte, sucht die Antworten bei Konrad Seitz vergeblich. Er glaubt schlicht, dass großer wirtschaftlicher Druck Chinas Herrschende schon irgendwie zur Machtteilung zwingen wird.

Je weiter Seitz in die Zukunft blickt, desto mehr blendet er die politischen Probleme aus, die er bei der Analyse der gegenwärtigen Situation noch klar erkannt hat. Merkwürdig wirkt vor allem, dass ein ehemaliger politischer Beamter seine Szenarien für China nur auf wirtschaftliche Faktoren reduziert und sie dann ausgerechnet mit einem kulturellem Credo begründet: „Der wichtigste Trumpf Chinas sind seine Menschen: junge, ehrgeizige, lernbegierige und hart arbeitende Menschen, die fähig sind, ‚Bitterkeit zu essen‘ – ohne aufzugeben. Es sind diese Menschen, die Chinas Wirtschaftswunder schufen. Wer längere Zeit in China gelebt und sie erlebt hat, der weiß: Sie werden es schaffen!“ Das mag sein, doch dafür bedürfte es einer Beantwortung der von Seitz ausgeblendeten Fragen. Allein der Glaube an Chinas Kraft hilft da nicht weiter.

SVEN HANSEN

Konrad Seitz: „China. Eine Weltmacht kehrt zurück“, 448 Seiten, Siedler Verlag, Berlin 2001, 24,75 €

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