piwik no script img

Den Barmherzigen droht „lebenslänglich“

In einem der längsten Prozesse gegen die vietnamesische Mafia stützt sich die Anklage auf eine umstrittene Kronzeugin. Heute wird das Urteil erwartet

von MARINA MAI

Xuyen zeigt auf ihren Hosensaum. Dort habe das Blut geklebt, das sie abwaschen musste. Die attraktive 33-jährige Vietnamesin ist vom Zeugenstuhl aufgestanden. Die Hose mit dem Blutfleck habe einem der Angeklagten gehört, berichtet sie. Der war gerade von getanem Mord nach Hause gekommen und aß ein Steak, das noch nicht ganz durchgebraten war. Der Angeklagte habe sich übergeben. Und sie habe es aufwischen müssen.

Xuyen ist die Kronzeugin in einem der längsten und umfangreichsten Strafprozesse vor dem Berliner Landgericht; heute geht er nach vier Jahren aller Wahrscheinlichkeit zu Ende. Auf der Anklagebank sitzen die vier mutmaßlichen Führungskräfte der vietnamesischen Zigarettenmafiabande „Ngoc Thien“, die bis zu ihrer Zerschlagung Mitte 1996 ein Drittel der vietnamesischen Zigarettenhändler um Schutzgelder erpresst haben soll. Laut Staatsanwaltschaft sollen sie dabei acht Morde begangen haben, darunter auch einen Sechsfachmord in einem Marzahner Hochhaus im Mai 1996. Außerdem müssen sich die vier wegen erpresserischen Menschenraubs, illegalen Waffenbesitzes und der Bildung einer kriminellen Vereinigung verantworten.

Ursprünglich waren insgesamt 16 Bandenmitglieder angeklagt. 9 davon wurden bereits vor vier bzw. zwei Jahren verurteilt (s. Chronologie), ein Angeklagter wurde dem Landgericht Leipzig übergeben, wo er sich wegen Mordes in einem anderen Fall verantworten muss. Einen weiteren Mann, der unter Mordanklage stand, schob die Ausländerbehörde im Sommer 2001 nach Vietnam ab. Das Verfahren um den neunten Mordvorwurf wurde eingestellt. Ein höchst ungewöhnlicher Vorgang, der zeigt, wie schlecht die Beweislage in dem Strafverfahren ist.

Die Vietnamesen haben namhafte Strafverteidiger aufbieten können, die den Prozess mit immer neuen Beweisanträgen in die Länge zogen. Da wurden etwa philologische Fragen der Übersetzung aus dem Vietnamesischen oder die Praxis des Einlassdienstes bei Gericht erörtert. Noch nach den Plädoyers gelang es Verteidiger Olaf Franke, die Beweisaufnahme neu aufrollen zu lassen.

Die Verteidigung geht davon aus, dass ihre Mandanten mit dem spektakulären Sechsfachmord nichts zu tun haben. Wie dann allerdings der Fingerabdruck eines Angeklagten auf die Handschellen kommt, mit denen die Opfer vor ihrer Erschießung gefesselt worden waren, bleibt ihr Geheimnis.

Der Fingerabdruck ist für die Staatsanwaltschaft das einzige objektive Beweismittel, um der Ngoc-Thien-Bande die Morde an den sechs Führungsköpfen einer gegnerischen Gruppierung zuordnen zu können. Sie stützt sich darüber hinaus auf die Aussagen der Kronzeugin Xuyen, die behauptet, die Männer hätten sich später vor ihren Augen der Morde gerühmt.

Ob die Vietnamesen heute verurteilt werden, hängt davon ab, ob das Gericht diese höchst umstrittene Zeugin für glaubwürdig hält. Glauben ihr die Richter, dann muss der Hauptangeklagte Le Duy Bao, nach dessen Spitzname „Ngoc Thien“ („Der Barmherzige“) die Gruppierung ihren Namen hat, lebenslänglich ins Gefängnis.

Die Kronzeugin will auch Augenzeugin der zwei anderen Morde gewesen sein, bei denen ihr damaliger Partner und dessen Bruder erschossen wurden. Ihre Aussage hatte die Polizei auch in einen Wald in Brandenburg geführt, wo die Leichen verscharrt worden waren. Die zwei Angeklagten hätten in Notwehr gehandelt, sagt dagegen die Verteidigung. Bei einem Saufgelage, wo Xuyen die Männer aufeinander eifersüchtig gemacht habe, hätten die späteren Opfer bereits nach ihren eigenen Waffen gegriffen.

Die 33-Jährige sei „eine Schlange“, führte Verteidiger Aribert Streubel aus. „Jeder Mann kann froh sein, wenn er einer solchen Frau nicht begegnet.“ Sie habe im Gerichtssaal „gelogen, wenn sie nur den Mund aufmacht, Tatsachen mit Lügen ausgeschmückt“ und zuvor „die Männer nach ihrer Pfeife tanzen lassen“.

Laut ihren eigenen Aussagen wurde Xuyen, die heute in einem Zeugenschutzprogramm lebt, zwischen April und August 1996 als Gefangene der Mafiagruppe gehalten, weil sie den Doppelmord beobachtet hatte. Die Verteidigung hat dennoch Zweifel an den Aussagen Xuyens. Zu Beginn ihrer angeblichen Gefangenschaft wurde sie von der Polizei observiert. Das Observierungsprotokoll habe ergeben, „dass sie munter draußen herumgelaufen ist und sogar einen Abstecher nach Bernau gemacht hat“, sagt Olaf Franke. Er vermutet sogar, dass Xuyen in die Hierarchie der Mafiagruppe eingebunden war.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen