: Kein normaler Schultag
Der Amoklauf von Erfurt beschäftigt heute Schüler und Lehrer auch an den Berliner Schulen. Gedenken in den Klassenzimmern ab 11.05 Uhr. GEW-Chef Thöne: Lehrer zu oft Sündenböcke
von RICHARD ROTHER
Nach dem Amoklauf von Erfurt gibt es heute an den Berliner Schulen nur ein Thema: Wie konnte es zu der Tat kommen, wie schützen sich Schüler und Lehrer? „Am Montag kann auf keinen Fall einfach zur Tagesordnung übergegangen werden“, so der Sprecher der Schulverwaltung, Thomas John. Nun gelte es, in Gesprächen die Fassungslosigkeit zu überwinden, die das Verbrechen bei Schülern und Lehrern ausgelöst habe. Mit Sicherheit werde das Geschehene im Unterricht zu besprechen sein. Die Schulverwaltung überlässt es allerdings den einzelnen Schulen, wie sie mit dem Thema umgehen wollen. Am Freitag hatte ein ehemaliger Schüler ein Blutbad in einem Erfurter Gymnasium angerichtet.
Um 11.05 Uhr wollen heute Schüler und Lehrer an allen Berliner Schulen innehalten und der Opfer von Erfurt gedenken. Zu dieser Uhrzeit hatte am Freitag der Amoklauf begonnen. Allerdings haben manche ihre Schwierigkeiten mit angeordneten Gedenkveranstaltungen. Christoph Heidenreich, pädagogischer Koordinator am Friedrichshainer Andreas-Gymnasium: „Wie man mit so einem furchtbaren Ereignis umgeht, ist ja eine individuelle Sache.“ Die Lehrer sollten die Stimmung in den Klassen ausloten und dann entscheiden, ob man sich die Zeit nehmen, über die Erfurter Ereignisse zu reden.
Auch nach den Vorfällen seien Schulen sichere Orte, so Thomas John. Verschärfte Sicherheitsvorkehrungn böten keinen absoluten Schutz vor solchen Taten. John sieht keine Besorgnis erregende Zunahme von Gewalttaten an den Berliner Schulen. Im Vergleich zum Vorjahr sei die Zahl der Vorfälle sogar zurückgegangen.
In der Praxis relativieren sich solche Statistiken jedoch schnell. „Dass ein Schüler ausrastet, ist nichts Besonderes“, sagt eine Lehrerin an einer Weddinger Gesamtschule. Allerdings könne man spontane Wutausbrüche nicht mit solchen von langer Hand geplanten Taten wie in Erfurt vergleichen.
Bei der Frage, wie solche Taten künftig zu verhindern seien, herrscht zumeist Ratlosigkeit. „Dem Täter in Erfurt hat man ja auch nicht vorher angesehen, was er machen würde“, sagt eine Schülerin. Deshalb hält sie auch nichts von verschärften Sicherheitsmaßnahmen: „Wenn man will, kann man immer was durchschmuggeln.“ Und ein anderer Schüler will nicht, dass seine Schule zu einem „Gefängnis“ wird.
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hat das Bild der Lehrer und Lehrerinnen in der Gesellschaft kritisiert. Soziale Missstände würden zunehmend personalisiert, Lehrer müssten immer öfter als Sündenböcke herhalten, sagte GEW-Landeschef Ulrich Thöne. „Die permanenten Angriffe auf die Professionalität von Lehrern sind nicht hilfreich.“
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