: Die vergessenen Migranten
In Berlin berät eine Sozialarbeiterin seit einem Jahr türkische Senioren. Das Wissen um die Möglichkeiten von Unterstützung im Krankheitsfall ist bei ihnen gering, ihre Scheu, Probleme einzugestehen, umso größer. Die Behörden kümmern sich kaum
von NADIA LEIHS
Der Mann lag hilflos auf dem Boden des Wohnzimmers. Die beiden Kinder tobten um ihn herum. In der Wohnung roch es scharf nach seinem Urin.
Derya Wrobel war schockiert, als sie ihre neuen Klienten vor gut einem Jahr besuchte. Sie wusste, dass der alte Mann schwer krank war und gepflegt werden musste. Sie wusste auch, dass seine Frau Hanim die deutsche Pflegeversicherung nicht kannte und sich allein um ihren an einem Hirntumor erkrankten Mann kümmerte. Die Sozialarbeiterin war schon bei vielen alten Menschen zu Hause gewesen und hatte sie über ihre Rechte aufgeklärt – in ihrer Muttersprache Türkisch. Der Besuch bei dem alten Türken in der Arbeitersiedlung in Berlin-Tempelhof war dennoch eines der härtesten Erlebnisse, seit sie vor einem Jahr mit der Beratung begann.
Seit zehn Jahren gibt es Koordinierungsstellen für die Beratung von Senioren in Berlin, im Februar 2001 entstand die erste Beratungsstelle für türkische Senioren – ein Modellprojekt des Verbandes der Kriegsbeschädigten, Kriegshinterbliebenen und Sozialrentner Deutschlands (VdK). Die Statistik spricht Bände: Im Jahr bevor Derya Wrobel ihre Beratung begann, suchten fünf fremdsprachige Senioren Rat in der Koordinierungsstelle Schöneberg-Tempelhof. Im ersten Jahr kamen 800 Familien zu ihr, in den ersten drei Monaten dieses Jahres über 320. „Mein Telefon hört nicht auf zu klingeln“, sagt sie, „meine Kapazitäten sind längst überschritten.“ Für eine zweite Kollegin gibt es kein Geld, sie selbst wird wahrscheinlich nur bis Ende 2002 beschäftigt. Dann laufen die Fördermittel des Deutschen Hilfswerks aus, „mein Chef will das Projekt behalten, aber er kriegt kein Geld dafür“.
Die Schuldenfalle
Von Hanim und ihrem Mann hat Derya Wrobel von anderen Klienten erfahren. Der Mann, der neben dem Hirntumor auch an den Folgen eines Schlaganfalls litt, lag auf dem Teppich, weil die Familie kein Pflegebett bezahlen konnte. Es sei nicht mal genug Geld für die Windeln da gewesen. Hanim, seine Frau, habe sich hoch verschuldet und am Ende nicht mehr gewusst, wovon sie Lebensmittel bezahlen sollte. „Wenn es meine Stelle nicht gegeben hätte, ich weiß nicht, wer der Frau geholfen hätte“, sagt die Sozialarbeiterin.
Vor einem halben Jahr starb der Mann. Hanim lebt seitdem mit ihren beiden Kindern von Witwen- und Waisenrente, Kindergeld und Sozialhilfe. Die Anträge hat Derya Wrobel ausgefüllt – Hanim spricht kaum ein Wort Deutsch. Sie leidet an starken Rückenschmerzen, die von der Anstrengung stammen, ihrem Mann immer wieder vom Boden aufzuhelfen, um ihn zu waschen, auf die Toilette zu bringen oder ihn anzuziehen. Die Kinder seien zum Teil sehr verstört, hätten mehr Probleme in der Schule als zuvor, erzählt Derya Wrobel. „Wir hätten ihnen sicher viel ersparen können, wenn die Familie bereits im Krankenhaus über die Pflegeversicherung aufgeklärt worden wäre.“
Der Arbeitsplatz der Sozialarbeiterin ist bundesweit fast einmalig: „Das Problem der älter werdenden Migranten in Deutschland wurde bisher einfach nicht ernst genommen“, sagt der Bochumer Sozialpädagoge Mustafa Calikoglo. Dort berät er in Moscheevereinen und einem Stadtteilzentrum seit 1998 türkische Migranten. Ähnliche Einrichtungen gibt es lediglich in Frankfurt am Main, im niedersächsischen Hameln und in Lünen am Rande des Ruhrgebiets.
Fast ebenso trostlos sieht die Situation bei privaten Altenpflegediensten und in Altenheimen aus. Das einzige Pflegeheim, das ausdrücklich türkische Migranten aufnimmt, existiert in Duisburg. Dort werden die alten Menschen in ihrer Herkunftssprache betreut, ihre kulturellen und religiösen Gewohnheiten werden im Alltag beachtet. „Migranten kämpfen im Alter oft mit ganz anderen Krankheiten als Deutsche“, betont Bilgin Yasar, Oberarzt an der Universität Gießen. Viele kamen als Arbeitsmigranten nach Deutschland, spätestens seit Günter Wallraffs „Ganz unten“ sind die miserablen Arbeitsbedingungen und das häufige Fehlen von Arbeitsschutzmaßnahmen auch einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Heute leiden die alten Migranten oft an den Spätfolgen früherer Arbeitsunfälle und der Überstrapazierung ihres Körpers, an Herz-Kreislauf-Beschwerden und motorischen Störungen wie Gehbehinderungen. Hinzu kommen psychosomatische Beschwerden wie Kopfschmerzen oder Schlafbeschwerden aufgrund von Heimweh, Isolation oder Diskriminierung. In der Pflege müssten die Mitarbeiter der Heime sich auf die neue Gruppe von Senioren einstellen, die in der Regel einen anderen Umgang mit Scham, Schmerzen oder dem Tod haben. Die Ausbildung umgestellt hätten aber höchstens zehn Altenpflegeschulen in ganz Deutschland, kritisiert Yasar.
Verhandeln für Pflegegeld
Den richtigen Umgang mit ihren Klienten musste auch Derya Wrobel erst lernen. Trotz ihrer eigenen türkischen Wurzeln wurde sie von den Besonderheiten ihrer Landsleute überrascht. „Die können nicht eingestehen, dass sie sich nicht mehr allein waschen oder anziehen oder die Haare kämmen können.“ Das brachte Schwierigkeiten mit den Vertretern der Pflegeversicherungen, die prüfen, wie pflegebedürftig Derya Wrobels Klienten sind. Denn wenn die alten Leute behaupteten, sich selbst versorgen zu können, wurde ihnen kein Pflegegeld zugesprochen. Die Sozialarbeiterin verhandelte mit den Versicherungen, zog vor Gericht und erstritt meist die Zahlung des Pflegegeldes. Mittlerweile ist sie klüger geworden, bereitet die Leute intensiv auf den Besuch der Versicherungsvertreter vor und trifft doch immer wieder auf Hindernisse: „Im Türkischen gibt es nicht mal ein Wort für Intimpflege.“
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