„Wir sind keine Monstergesellschaft“

Der Soziologe Joachim Kersten hat Verständnis dafür, dass nach Erklärungen für Gewalt gesucht wird. Dennoch: Die Idee, dass eine solche Tat wegen bestimmter Faktoren begangen wird, ist eine Illusion

taz: Warum schockiert uns Erfurt?

Joachim Kersten: Das ist der Einbruch des Krieges in unseren nichtkriegerischen Alltag. Afghanistan, Palästina, das ist weit weg. Erfurt ist nah.

War Erfurt ein Amoklauf? Es sieht ja eher wie ein gezielter Massenmord aus, ein Rachefeldzug.

Von Amoklauf spreche ich bei einem Täter, der keinerlei Empathie mit den Opfern hat, der in einem rauschhaften Zustand ist. Das war in Erfurt der Fall.

Nach dem Massaker in Littleton 1999 sprachen viele von einem Verbrechen, das zu einer narzisstischen Gesellschaft passt, nach dem Motto: Ein Star für 15 Minuten. Und hier?

Es gibt bei Amok immer drei Erklärungsmuster: Erstens: der Täter, der oft dämonisiert wird. Zweitens: Die Gesellschaft ist schuld; sie ist zu lasch, macht ihre Normen nicht ausreichend deutlich. Dritte Ebene: die Medien, die in Computerspielen und Videos Vorbilder für solche Ereignisse liefern. Es ist verständlich und berechtigt, dass Ursachen und Kausalitäten gesucht werden. Aber die Idee, dass eine solche Tat wegen der Faktoren A, B und C begangen wird, ist eine Illusion. Der Amok verweigert sich dem Versuch, ihm Sinn zu geben. Richtig ist, dass solche Taten immer mit Selbstdarstellung zu tun haben. Aber die Narzissmustheorie stammt noch aus den späten 70ern. Damit wollten deutsche Pädagogen erklären, warum die Schüler schwieriger wurden. Es gibt immer die gleichen Erklärungsmuster, die sich im Kreis drehen.

Aber es gibt Strukturmerkmale: Amokläufer sind fast immer Männer.

Ja, Männer, die Waffen lieben, sie besitzen und damit trainieren. Das war bei Amokläufen immer so. Und es gibt immer Enttäuschungen, mal lang-, mal kurzfristiger Art. In Melborne hat 1987 jemand, den seine Freundin verlassen hatte und dessen Auto nicht angesprungen ist, fast zwanzig Leute umgebracht.

In Deutschland finden Amokläufe auffällig oft in Schulen statt. Ist das ein Indiz für steigende Gewalt dort?

Die Schule ist, nach allem was an empirischen Daten verfügbar ist, nicht mehr so gewalttätig wie in den 50er- und 60er-Jahren – zumindest nicht gegen Schüler. Es gibt mehr verbale Androhungen, aber weniger Körperverletzung und Morde. Die Pädagogik sagt trotzdem: Es wird alles immer schlimmer, die Jugend wird immer gewalttätiger. In dem apokalyptischen Gerede davon, dass es einen Verlust an Normen und Werten gibt, werden die Fakten einfach übersehen. Außerdem: Selbst wenn es stimmen würde, dass die Schule Ort von immer mehr Gewalt wird, muss man sehen, dass diese Amoktat an einem Gymnasium stattfand – und nicht an einer Hauptschule, nicht an einem Ort sozialer Desintegration.

Was kann man tun?

Ich habe mir die Amokläufe der letzten 25 Jahren angeschaut und festgestellt, dass die Suche nach Kausalitäten nicht viel bringt. Um überhaupt etwas zu verstehen, muss man sich die Vorgeschichte anschauen. Dann wird der Täter greifbarer. Man sieht, dass der Täter nicht das Monster ist und dass wir nicht die Monstergesellschaft sind. Wenn wir die Geschichte des Täters – fern von Serial-Killer-Bilder des Fernsehens – der Gesellschaft erzählen könnten, das würde etwas bringen.

Ist Prävention möglich?

Nein, kaum. Die Schützenvereine müssen sich ihrer Verantwortung bewusst sein, weil Waffenfetischismus oft eine Rolle spielt. Und es gibt mediale Vorlagen: Der gezielte Kopfschuss, mit dem der junge Mann in Erfurt getötet hat, imitiert Kinobilder. Aber mit Verboten, die Stoiber und Schavan nun fordern, ist da nichts zu machen. Eher mit geschärftem Bewusstsein, wie sich solche Taten aufbauen.

Was heißt Amok?

Das kommt aus dem Malysischen. Es wurde gerufen, wenn einer mit dem Dolch auf andere losging. Es war ein Warnruf. Der Täter wurde nicht bestraft, weil das als Tat im Rausch galt. Ich glaube, auf den historischen Ursprung zu schauen, ist immer noch hilfreicher als die Vulgärpsychologie und die vulgäre Gesellschaftstheorie, die derzeit kursieren. In Erfurt ging der Täter herum und tötete. Er war in einer Realität, in der er im Opfer nicht das Gegenüber erkannte. Dann tritt der Lehrer auf – den erkennt er – und in dem Moment hört er auf. Das ist typisch für die besondere Wahrnehmung im Amok. Amokschützen schießen auch nur auf auf Menschen, die sich bewegen. Wer liegt, überlebt.

INTERVIEW: STEFAN REINECKE