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SINNLOSE GEWALT? WARUM ES AM 1. MAI IMMER WIEDER RANDALE GIBTSpiel mit Grenzen

Wahrscheinlich glauben nur noch ein paar erfahrungsresistente Autonome und ein paar Hardliner in der Union, dass der ewige Radau am 1. Mai etwas mit Linksradikalismus zu tun hat. Das war vielleicht mal so. Auch heute mag es noch die Streetfighter geben, die schon mal ein Flugblatt gelesen haben – die Szene beherrschen 13-jährige Kids und Betrunkene. Revolution ist out, Fun ist in. Es geht um kein politisches Fanal, Ziel der Veranstaltung ist die per Plünderung erbeutete Bierdose. Wer diesen Gewaltkarneval verstehen will, muss als Ethnologe, nicht als Politologe ans Werk gehen. Was hier geschieht, hat mit Worten nicht viel zu tun.

Das zu begreifen, ist mehr als eine intellektuelle Spitzfindigkeit. Denn aus dieser Analyse folgt zweierlei – wie das Treiben zu bewerten ist und wie groß die Möglichkeiten der Polizei sind, effektiv dagegen vorzugehen.

Rasch zur Hand ist derzeit die Formel von der „sinnlosen Gewalt“. Wer so spricht, markiert moralische Entfernung zum Mob, mehr auch nicht. Wenn der Berliner Maikrawall sinnlos ist – warum existiert er? Warum sogar als Ritual, also in einer starren Form, die vernünftigen Einwänden gegenüber bedauerlicherweise abgeschottet ist?

Zum Ritual gehört auch die Begrenzung der Gewalt. Mob und Polizei stehen sich alljährlich in einer verlässlichen Choreografie gegenüber, so wird das Schlimmste verhindert. Die Krawalle folgen einer festen Dramaturgie mit Anfang, Höhepunkt und Ende. Kein noch so wirrer Krawallkopf kommt auf die Idee, am 2. Mai einfach weiterzumachen. Die 1.-Mai-Randale ist also ein hässlicher, dummer, aber kein sinnloser Akt der Triebabfuhr. Vielleicht hat sie die durchaus segensreiche soziale Funktion, dass Kreuzberg an 364 Tagen im Jahr ein, trotz dramatischer sozialer Spannungen, erstaunlich zivilisierter Ort ist.

Da der 1. Mai eine Art schwarzer Karneval ist, kann die Politik wenig tun. Gerade wenn sie, in einer Art Rechtsstaatsfundamentalismus, auf viel Polizei setzt, vergrößert sie das Risiko. Deswegen klingt die Kritik der CDU an der eher weichen Polizeitaktik töricht. Sie suggeriert, man hätte die Maifestspiele einfach absetzen können. Das ist eine Illusion, eine gefährliche sogar. STEFAN REINECKE

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