: „Verdaut und ausgeschieden“
Der Amoklauf von Erfurt hat die Diskussion um Gewalt in den Medien neu entfacht. Nach einem Gespräch mit dem Kanzler wollen die TV-Chefs einen runden Tisch einrichten. Ein taz-Interview mit dem Medienwissenschaftler Hans J. Kleinsteuber
taz: Vergangenen Donnerstag hat Gerhard Schröder die Intendanten aller deutschen Fernsehsender um sich geschart, um über Gewalt in den Medien zu sprechen. Nur eine werbewirksame Aktion, um der Öffentlichkeit zu zeigen: „Die Regierung kümmert sich“?
Hans J. Kleinsteuber: Ich fürchte: ja. Zumal auch Stoiber ein Bündnis gegen Gewalt angeboten hat. Man versucht, sich zu profilieren. Man überbietet sich gegenseitig mit Vorschlägen.
Immerhin wollen die Sender einen runden Tisch einrichten.
Runde Tische dienen in erster Linie der Verschleppung. Erst mal herrscht große Hyperaktivität, letztendlich kommt aber nichts raus. Es gibt keinen klaren Auftrag und kein klares Ziel.
Was wäre ein solches Ziel?
Eine friedlichere Gesellschaft. Und da muss als Erstes die Waffenlobby genannt werden. Die gibt es auch in Deutschland – auch wenn es viel schwieriger ist, an Waffen heranzukommen, als in den USA. Die Medien sind nur ein Nebenkriegsschauplatz.
Bei dem runden Tisch geht es aber nun mal um die Medien.
Dort müsste die Frage lauten: Wer ist Hauptnutznießer von Gewalt im Fernsehen? Und dann würde ganz schnell klar, dass die Sender richtig Federn lassen müssen. Aber an einem runden Tisch kommt doch nur der kleinste gemeinsame Nenner raus, da sind sich doch alle Beteiligten viel zu einig.
Die Diskussion um Gewalt im TV ist doch uralt.
Ja, es ist doch klar, dass die gerade jetzt wieder hochkocht. Wir leben in einer Gesellschaft, wo die Medien die Themen setzen, und zwar ad hoc. Erfurt hat die Lawine losgetreten, aber die wird sich sehr bald erschöpft haben. Dann kommt das nächste Thema, und geändert hat sich nichts.
Wird Gewalt in den Medien das große Wahlkampfthema?
Nein, bis der in die heiße Phase kommt, ist das doch längst vergessen.
Brauchen wir neue Gesetze?
Nein, man müsste lediglich schärfer kontrollieren, dass die bereits bestehenden eingehalten werden – vom Paragrafen 131 im Strafgesetzbuch, der die Verherrlichung von Gewalt unter Strafe stellt, bis runter zu den Rundfunkstaatsverträgen und den Auflagen der verschiedenen Landesmedienanstalten.
Was ist gefährlicher: fiktionale Gewalt – oder reale Gewalt in der „Tagesschau“?
Wenn Gewalt in der Welt stattfindet, muss sie auch gezeigt werden. Ich glaube auch nicht, dass sie zu Imitationsreflexen führt. Dazu ist sie zu furchtbar. Viel schlimmer ist Gewalt, die so leichtfertig nebenher konstruiert ist: Videospiele, wo jemand ein großer Held ist und reihenweise Gegener wegknallt. Das senkt die Hemmschwelle.
Ist selber spielen schlimmer als einen Film anschauen?
Ich will mir kein Urteil erlauben, was schlimmer ist. Es sind zwei Seiten desselben Problems. Beide verharmlosen Schmerzen.
Ab sechs Jahren könnten Kinder Realität und Fiktion unterscheiden, sagt eine Studie.
Das sind Durchschnittswerte. Meine Tochter ist viereinhalb, und ich bin sicher, dass sie das bereits unterscheiden kann. Man muss Kinder dazu anleiten, wie sie mit Medien umgehen sollen. Wenn Eltern allerdings den Fernseher als Babysitter nutzen, werden Kinder viel mehr Probleme haben, sich in der Medienwelt und in der realen Welt zurechtzufinden. Meine Tochter sieht am Tag höchstens eine Dreiviertelstunde fern – nicht mehr, sonst verfettet sie ja noch vor der Kiste. Sie guckt „Sesamstraße“ und „Sendung mit der Maus“. Wir haben jetzt noch so was Neues auf CD-ROM, ein Programm, wo meine Tochter selbst Zeichentrickfilme gestalten kann. So lernt sie die Geheimnisse der Medien kennen. Das entmystifiziert.
Im Wesentlichen kennt die Medienwissenschaft zwei Thesen: Die eine sagt, Gewalt im Fernsehen führe zur Nachahmung. Die andere sagt, gerade weil man schon so viel gesehen hat, habe man genug davon.
Diese These vertreten vor allem jene, die damit Geld machen – wie die Privatsender.
Die öffentlich-rechtlichen sind aber auch nicht ohne.
Wir haben seit 1985 das duale Rundfunksystem, und seither ist es allseits das oberste Prinzip, Quoten zu optimieren. Das geht mit Gewalt eben recht gut. Denn nichts ist so billig wie ein gewalttätiges Programm.
Ein Auto in die Luft jagen ist nicht gerade billig.
Das meine ich nicht. Wir sprechen ja nicht von Explosionen, von ästhetisierter Gewalt. Sondern davon, dass jemand eine Schnellschusswaffe in die Hand nimmt und Leute totschießt. Es geht um visuelle Gewalt, die davon lebt, dass der Zuschauer sich mit dem Täter identifiziert. Der ist Soldat, Agent oder sonst wie legitimiert, Leute zu erschießen.
Der Name des Erfurter Amokläufers ist jetzt bundesweit bekannt. Ist diese posthume Berühmtheit auch ein Motiv für eine solche Tat?
Selbstverständlich. Wahnsinnig viele Menschen drängen in die Medien, manche gehen zu „Big Brother“, andere zünden am 1. Mai Autos an. Fernsehen ist ganz wichtig in dieser Welt der Bedeutungslosigkeit und des Vor-sich-hin-Dämmerns. Der Amokläufer hatte nur diese eine Chance, bekannt zu werden. Er hat das ganz richtig erkannt.
So schrecklich der Amoklauf war: Ist er medial betrachtet nicht auch ein Event?
Natürlich ist das ein Event. Zuschauer wollen so was sehen. Dabei wäre es besser, wenn wir uns in unserer Gesellschaft in Ruhe darüber verständigen würden, wie man Gewalt vermeiden kann. Gestern wurde die Trauerfeier im Fernsehen übertragen. Der Kanzler und der Bundespräsident haben betroffene Gesichter gemacht, vielleicht haben sie das mit ihren Imageberatern so abgesprochen. Das war’s, und heute ist Fußball. Kurz nach dem Amoklauf haben die Reporter den Kindern ein Mikro unter die Nase gehalten und gefragt: „Was denkst du jetzt?“ Das kann doch nicht sein. Das Fernsehen ist ein Medium der Beschleunigung. Erst ist die Trauer ganz intensiv, aber dann ist man auch schnell gesättigt. Es wird verdaut und wieder ausgeschieden. Dann ist das Thema erledigt.
INTERVIEW: ALEXANDER KÜHN
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