: Irres Licht in Lichterfelde
„Sehen Sie nur, wie der Putz abblättert“: ein Besuch in Lichterfelde, einem Kleinstaat in der Stadt, wo jeder Arbeit hat, wo man es normal findet, sonntags öfter mal ein Musterhaus anzusehen, und wo die Magnolien so früh blühen wie nur noch in Freiburg
von ANDREAS BECKER
Lichterfelde ist ein Flächenstaat, ein Staat in der Stadt. Wahrscheinlich ist Lichterfelde mit einem geheimen Staatsschatz ausgestattet, den es vorm „Armenhaus Berlin“ sorgsam versteckt. Es ist so riesig, dass ich drei Recherchetage mit dem Fahrrad brauchte, um wenigstens in Ansätzen zu begreifen, was „Lichterfelde“ uns sagen will. Lichterfelde zum Sprechen zu bringen – das scheint eine Lebensaufgabe zu sein. Seine enorme Ausdehnung macht es ratsam, das Gebilde von den Rändern her zu erkunden. Die Anreise erfolgt mit der S-Bahn. Wobei hier die Probleme schon losgehen: Lichterfelde West, Süd oder Ost, alles ist möglich, nur den Norden findet man nicht. Falls die FU mit ihrer Rostlaube noch in Lichterfelde ist, wäre hier Norden?
Also dahin gehen, wo die Lichterfelder Angst sitzt, wo Lichterfelde abbröckelt. An die Grenzen, an die Peripherie, zu den drei schwarzen Kraftwerksblöcken am Teltowkanal, zum gelb blitzenden ADAC-Rettungshubschrauber am Uni-Klinikum „Benjamin Franklin“. Hier am Rücken von Krankheit und Tod, die hinter einer löchrigen, blechernen Kaufhausfassade versteckt werden, ist Lichterfelde vielleicht am nächsten bei sich. Hier joggt, walkt oder talkt der Lichterfelder abends nach der Arbeit. Und Arbeit haben hier alle.
Auf dem Pfad entlang des Teltowkanals sind wir in den Achtzigern von Neukölln aus zur Uni gefahren. Was sehr romantisch ist: die alte Stahl-Fachwerk-Brücke überspannt immer noch den Kanal und daneben hängt immer noch die ehemalige Fernbahnbrücke, auf der man rauchen kann und auf Schiffe spucken. Unter den Brücken sind merkwürdige Bier-Graffiti. Hier trifft sich eine Gang, die sich „AWWSK“ nennt und sogar ihre „Hausregeln“ veröffentlicht: „Sei keine Vollfresse. Bier ist heilig.“ Zum Glück fährt der Lichterfelder oben in der S-Bahn drüber, er würde wohl sagen: Gott, das schmutzige Steglitz.
Sie fahren zu Obi
Versuchen wir es ein paar Kilometer weiter. Endstation Lichterfelde Süd. Hochhäuser dokumentieren, wie eng Westberlin war. Die Sozialbauten standen kurz vor der Mauer und wirken heute wie viel zu weit an den Rand der Stadt geraten. Als würde jemand beim Schach seine Figuren außerhalb des Bretts postieren und trotzdem mit großem Ernst weiterspielen. Deshalb muss man hier laut lachen – das verstehen die Lichterfelder nicht. Die denken, es sei normal, in der S-Bahn Morgenpost zu lesen, zum Obi-Gartencenter mit dem Auto zu fahren oder sonntags vielleicht mal wieder ein Musterhaus anzusehen.
Heimlich beneidet man den Lichterfelder um seine weite Aussicht, um das Vogelgezwitscher, um die Blütenpracht in gepflegten öffentlichen Gebüschen ohne Bierdosen und Hundekacke. Der Frühling bricht in Lichterfelde zwei Wochen früher aus als in Kreuzberg. Noch früher ist nur Freiburg dran.
Irrlichterfeldern wir zum Mauerstreifen, und schwupps sind wir in Teltow. Das scheint sofort mehr Abenteuer zu versprechen. Die Häuser sind entweder schrottiger oder es sind sehr neue Doppelhaushälften. Zurück Richtung Teltowkanal radeln wir auf dem alten Grenzer-Postenweg. Die witzigen DDR-Betonplatten versinken immer mehr, sie sind überasphaltiert, rundum sind die wild gewachsenen Weiden bestimmt schon 15 Meter hoch. Wo wir den Grenzstreifen in der Stadt oft vergessen, wird er hier noch zur vollmundigen Metapher. Hier lässt sich gut grübeln über Berlin. Schnell weg, aber dann versperrt doch tatsächlich der gute, alte Grenzdrahtzaun den Weg. Ja, PDS-Wähler aus Ost und West, hier würdet ihr euch wohl fühlen! Der Gitterzaun wird sogar geschützt. „Lassen Sie den Zaun und damit auch die Natur heil. Bitte respektieren Sie, dass die Naturschutzbehörde Zeit braucht. Deshalb nach 30 Jahren noch der Zaun“. Das Schild ist ziemlich verwittert, wahrscheinlich hängt es seit 91.
Hinter dem Zaun jedenfalls ist Westen, schon wieder Hochhäuser, Industrie, Lichterfelde? Ein rot-weißer Aufkleber setzt die Zeitachsen wieder ins Lot: „125 Jahre B.Z.“ markiert den ersten Westzaunpfahl.
Vor der Rückkehr an die Westfront aber noch durch den Dorfkern von Teltow, das sind wir dem Kanal schuldig. Tatsächlich hat man den „Landrat von Stubenrauch, den Schöpfer des Teltowkanals“ hier in Granit verewigt. Rundum der Wille zur Sanierung und eine Losung des Sanierungsvereins: „Die Altstadt wird … schön.“ Hundert Meter weiter ist nix mit Schönheit, die Autopendler machen Krach und wollen schnell in ihren Garten im Grünen, es ist Freitagnachmittag.
Sie trinken Kaffee
Drüben im Westen ist gar nicht Lichterfelde, da ist Zehlendorf. An der Goerzallee sind große Betriebe, komischerweise scheint hier nur wenig pleite zu sein und leer zu stehen. Die Krone AG macht irgendwas mit Telefonen und nebenan produziert man Autoteile für Ford, die seltsam ökologisch mit der Bahn nach Köln geliefert werden. Dazu wird die Goerzallee plötzlich gesperrt, und die blauen Waggons der „Mega-Combi“ rollen über die Straße. Die stehen dann gern am Bahnhof Lichterfelde Süd rum. Auf Gleisen, auf denen bis zum Abzug der Amis jeden Abend ein Militärsonderzug nur für GIs bereitgestellt wurde, der unter Alliiertenrecht durch die DDR zu US-Kasernen in der BRD fuhr. Manchmal kamen so auch Panzer nach Lichterfelde West.
Folgen wir, wie immer, einfach den Gleisen. Vor dem Bahnhof liegt das, was Lichterfelder den Marktplatz des Bezirks nennen. Hier stehen sie draußen bei Tchibo am Stehtisch, daneben immer drei Taxen (mehr Platz ist nicht), der schöne Bahnhof mit seinem hohen Turm zeigt sogar korrekt die Uhrzeit an. In der Bahnhofskeipe „Zur Pferdetränke“ wird stark geraucht. Das Macedonia daneben annonciert „gepflegte, int. Küche“. Frechdachs-Kindermoden verkauft alte Pullis. Mütter mit haarigem Schafs- oder Pudelrucksack vergleichen kritisch Preise. Die Tchibo-Frau nötigt mir die Tchibo-Smart-Card auf, bei der es nach acht sauteuren Kaffees einen umsonst gibt. In Berlin lehne ich die Karte aus Prinzip immer ab (auch Karstadt-Kundenkarten sollte man brüsk ablehnen und alle doof finden, die sie benutzen und meinen, damit „Geld zu sparen“), in Lichterfelde bin ich am dritten Tag Feldforschung so windelweich im Kopf, die Karte mit Dank anzunehmen. Denn dieser Bezirk kennt keine Gegensätze, keinen Widerstand.
Ganz wild und bunt hat irgendwer das Eckhaus von Immobilien Schnoor einst gebaut. Ein hoher Holzturm auf der Ecke zur Curtiusstraße ist verziert mit einem Drachen aus Metall – hier erfährt der Lichterfelder, woher der Wind weht. Heute ist er ziemlich lau. Neben den superkitschigen, reich beschnitzten Holzbalkonen hat man einen Minnesänger aufs Haus gemalt: „Walther v.d. Vw“ steht neben dem Herrn im weiten Umhang, der ein Rotkehlchen auf der Hand spazieren führt. Irgendwie hat der Platz nicht für Vogelweide gereicht. Schade, dass daneben ein „Nachtwäsche“-Laden ist und kein VW-Autohaus. Immo Schnoor hat einen Blechschaukasten um einen Baum gewickelt, Objekte mit „Mietersteigerungspotenzial“ in Top-Lage – einfach mal nachfragen! Der Optiker behauptet, schon seit 1894 da zu sein, wir glauben es.
Sie jäten Unkraut
Und jetzt ins Herz (der Finsternis?) von Lichterfelde: durch die Potsdamer Straße geht’s vorbei an herrlichen Villen und bunten Gärten – als wäre man auf Trip, so grell blühen die Magnolien und Tulpen. Menschen jäten Unkraut oder wechseln in Ruhe Autoreifen. Fast englische Schlösser stehen in der Holbein- und der Paulinenstraße. Die sind richtig schön. Ein freundliches Ehepaar, das gerade am Gartenzaun werkelt, wohnt in einem der Minischlösser und klönt gern ein wenig. Gegenüber das verfallende Haus gehörte der Familie von Otto Lilienthal und seinem Bruder Gustav. Letzterer schob nicht nur gern das Fluggerät mit seinem Brüderchen an, er entwarf auch mehr als 30 dieser witzigen Villen. Die waren sehr, sehr kreativ, und das Geld mit den Erfindungen haben die andern gemacht, sagen die Nachbarn: „Sehen Sie nur, wie der Putz abblättert.“
Einige Straßen weiter könnte man die Lilienthal-Story in Originaldokumenten nachlesen. Auf dem Gelände der ehemaligen Andrew Barracks befindet sich in riesenhaften, unfreundlichen Nazi-Gebäuden das Bundesarchiv. Direkt daneben gehen Schüler fröhlich zwischen zwei nackten Granit-Ariern, er mit Schwert, sie mit Zopf, in ein klotziges Schwimmbad. „Follow Arrow To Dressing Rooms“ steht im Treppenhaus an der Wand. Ein Nazi-Schwimmbad, lange von der US-Army genutzt und jetzt in der Hand Lichterfeldes, daneben das Gedächtnis Deutschlands. Der Chlorgeruch übertüncht alles. Unheimliches, mächtiges Lichterfelde!
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