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Das Böse lauert überall

Albträume und andere Boshaftigkeiten: richtig fiese Kinderbücher, in denen man erfährt, was passiert, wenn Gwendolin nachts schlafen geht, oder unter welchen Härten die Wikinger lebten. Schließlich gilt: Wer sich mit dem Dunklen im Menschen beschäftigen will, darf es nicht klein reden

von ANGELIKA OHLAND

Warum müssen Kinderbücher nett sein? Kinder sind es doch auch nicht unbedingt. Sie schlagen sich, verpetzen einander, räumen nie auf, und wenn ihnen was nicht passt, dann „bist du nicht mehr meine beste Freundin“ – diese Erpresser. Kinderbuchautoren verschließen gerne die Augen vor dieser Tatsache. Und dann beklagen sie sich, wenn die Jungs und Mädels auf SuperRTL umschalten.

Manchmal allerdings gibt es Ausnahmen. Vor sechs Jahren zum Beispiel gab es dieses tolle, böse Bilderbuch, das „Die Menschenfresserin“ hieß. Es handelte von einer Frau, die so böse war, dass sie ein Kind fressen wollte – und auch fraß (Text Valerie Dayre, Bilder Wolf Erlbruch, Peter Hammer Verlag). Zweimal haben wir dieses Buch verschenkt, zweimal haben wir es von erzürnten Eltern zurückbekommen. Seither hüten wir es wie einen tausend Jahre alten Seeräuberschatz.

Nun endlich hat „Die Menschenfresserin“ einen würdigen Nachfolger bekommen. Ein Buch, in dem es so fies und gnadenlos zugeht, dass man seinem Autor große Weisheit unterstellen darf. Sein Name ist Helmut Krausser, und er erzählt davon, wie es zuging, „Wenn Gwendolin nachts schlafen ging“. Sobald Gwendolin abends die Augen schloss, kam es im Kinderzimmer nämlich zu einem Kinderzimmermassaker der allerschlimmsten Sorte. Am Ende hat sich der Hampelmann erhängt, der Fisch ist aufgespießt und mit dem Schriftzug „Fuck you“ versehen, und das Sparschwein hat einen Besen im Hals.

„Was ablief war ein Blutgericht / von ausgesuchter Grausamkeit. / In manchem Spielzeug machte sich / Ein lebenslanges Trauma breit. / Doch lebenslang ist relativ – / Das geht mitunter schnell vorüber. / Die Mörder waren kreativ / Und litten unter Arbeitsfieber.“ Man kann dieses Buch gar nicht genug loben ob seiner Hartherzigkeit – so sind Albträume nun mal. Hart sind auch die gestempelten Worte, die mit solcher Wucht auf dem Papier aufgeschlagen sind, als müssten sie selbst um ihr Leben fürchten. Und die collagierten Illustrationen von Susanne Straßer mit ihren Bosheiten im Detail – am besten, man schaut sich das selber mal an.

Wenn man etwas über das Böse erfahren will, das die Kinder aus ihrem eigenen Herzen genauso wie durch andere sehr gut kennen und fürchten, kann man aber auch wie ein Ethnologe oder Historiker andere Gegenden und Zeiten betrachten – das Böse gibt es schließlich überall. In den Märchen (am grausamsten sind die irischen), bei „Max und Moritz“ oder im „Struwwelpeter“ findet sich reichhaltig, was in den wohl behüteten Wohlstandsgesellschaften eher verborgen bleibt.

Da ist es interessant, unter diesem Aspekt mal zu gucken, welch Einblick in die Natur des Menschen die Beschäftigung mit früheren Völkern zu geben vermag. Die Wikinger zum Beispiel: Die kannten weder Polizei noch Gewaltprävention, sondern hielten sich Sklaven und kämpften gegen wilde Tiere und wilde Menschen. Wie ein hartes Leben die Menschen hart macht, kann man in „Die Leute von Birka“ erfahren. Ein Ausflug in den winterlichen Wald endet da so: „Einer der Wölfe hing sofort am Hals der Stute und das Blut spritzte in hohem Bogen in den Schnee. … der Wolf verbiss sich in seinem Schenkel. … Jetzt stach er in Höhe des Wolfskopfes zu und traf das Tier im Auge.“

Aber die Ehrlichkeit in Bezug auf die weniger angenehmen Seiten des Lebens ist nicht der einzige Vorzug dieses Wikingerbuches. Ein anderer liegt darin, dass hier Literatur und Sachbuch zusammengeführt wurden: Neben der literarischen Geschichte von Birka, dem Wikingerdorf, gibt es eine ausführliche Schilderung der Wikingerzeit, in der auch ein Kapitel „Woher wir das alles wissen“ nicht fehlt. Die Bilder zu diesem im Großen und Ganzen doch recht friedvollen Buch hat der Erfinder von Petterson und Findus gemalt.

Mag sein, dass die dunklen, kalten Gegenden der Erde eine Beschäftigung mit dem Dunklen im Menschen nahe legen. Und es ist ja auch eine außerordentlich spannende Frage, woher das Dunkle und Böse kommt und wie man es bekämpfen kann. Dazu darf man das Böse allerdings nicht klein reden. Die Schwedin Annika Thor lässt ihre Geschichte deshalb im 15. Jahrhundert spielen. Ein Junge aus dem Mecklenburgischen wird nach Bergen in die Kaufmannslehre geschickt. Mathias, so heißt der Junge, ist einsam, und das Macho-Getue der anderen Jungen macht ihm Angst. Er erträgt es nur, weil er einen Freund findet. Bis Simon sich verliebt und jene Zeit, die er früher mit Mathias verbrachte, der Geliebten schenkt. Mathias fühlt sich verraten – und verrät Simon, mit tödlichen Folgen.

„Wie ein brennender Vogel“ ist eher etwas für ältere Kinder oder für Jugendliche – die Empfehlung „ab 12“ kommt ganz gut hin. Wie Mathias mit seinen Gewissensqualen umgeht, wie er lügt und seine Schuld dennoch an ihm klebt wie Teer – das wird erzählt, ohne gleich einen Weg zu skizzieren, der den Konflikt handhabbar macht.

So, und jetzt, nach den realen und irrealen Albträumen zu guter Letzt noch ein richtig nettes Buch. Es ist für jene gedacht, die gerade anfangen, selber zu lesen. Das Buch heißt „Die verpatzten Zaubersprüche“, geschrieben hat es der türkisch-deutsche Schriftsteller Kemal Kurt, und es handelt von der Freundschaft zwischen dem Zauberer Ben Guzzi und der kleinen Viola Violine Violetta. Ben Guzzi kann zwar zaubern, aber nie das, was er will. Immer kommt etwas anderes dabei heraus. Deshalb sind alle sauer. Bis auf Viola. Die hat sofort begriffen, dass das, was niemand geplant und gewollt hat, einen nicht nur weit bringen kann, nämlich bis nach Afrika, sondern möglicherweise auch besonders schön und aufregend ist.

Susanne Straßer, Helmut Krausser: „Wenn Gwendolin nachts schlafen ging“. Verlag Antje Kunstmann, München 2002. 16,90 €ĽSven Nordquist, Mats Wahl, Björn Ambrosiani: „Die Leute von Birka. So lebten die Wikinger“. Deutsch von Angelika Kutsch. Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg 2002. 96 Seiten, 14,90 €ĽAnnika Thor: „Wie ein brennender Vogel“. Aus dem Schwedischen von Angelika Kutsch. Carlsen Verlag, Hamburg 2002. 160 Seiten, 12,50 €Ľverpatzten Zaubersprüche“. Nord-Süd-Verlag. 59 Seiten, 6,50 €

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