… und raus bist du!
: taz-Debatte „Berlin nach Pisa: Wo bleibt die Chancengleichheit?“ (Teil 6) Von Havva Engin

Altersgemäße Sprachförderung Fehlanzeige

Nicht erst seit den Ergebnissen der Pisa-Studie ist klar: Von Chancengleichheit kann im deutschen Bildungssystem kaum die Rede sein. Ganz im Gegenteil: Kinder aus armen und eingewanderten Familien haben es schwer. In Berlin besuchen sie vor allem Kitas und Grundschulen in den Innenstadtbezirken. Was tun mit diesen Bildungseinrichtungen? Wie können sie allen Kindern gleiche Chancen eröffnen? Diesen Fragen widmet sich immer dienstags eine Debattenserie der taz. Letzte Woche schrieb Barbara Schmitt-Wenkebach über die überfällige Reform der Erzieherinnenausbildung. Nächste Woche: Ertekin Özcan vom Türkischen Elternverein.

Ohne eine altersgemäße Sprachförderung bringt der Kindergartenbesuch den wenigsten MigrantInnenkindern die für einen erfolgreichen Einstieg in die erste Grundschulklasse notwendigen Deutschkenntnisse. Das hat die Bärenstark-Sprachstandsfeststellung gezeigt, die seit dem Jahr 2000 an Erstklässlern in den Innenstadtbezirken durchgeführt wird. Von den getesteten MigrantInnenkindern wiesen zwei Drittel gravierende Defizite im Deutschen auf, obwohl über 90 Prozent eine Kita besucht hatten. Überraschen kann das nicht. Denn trotz der allgemein bekannten Tatsache, dass die ersten Lebensjahre eines Kindes für die Entwicklung seiner sprachlichen Kompetenz sehr wichtig sind und der Kindergartenerziehung deshalb eine herausragende Rolle zufällt, sind nur wenige Kitas auf diese Aufgabe vorbereitet.

Nach wie vor werden in der ErzieherInnenausbildung die Bereiche „Mehrsprachigkeit“ und „sprachliche Förderung von Migrantenkindern“ vernachlässigt. Dabei brauchen gerade die Kindergärten in den Berliner Innenstadtbezirken ein Sprachförderkonzept, mit dem in den mehrsprachigen Kindertagesgruppen Deutsch als zweite Sprache (DaZ) altersgerecht vermittelt werden kann. In der Realität scheitert dies bisher sowohl an einem entsprechenden Konzept als auch an genügend ErzieherInnen, die sich mit Mehrsprachigkeit und sprachlicher Förderung auskennen. Expertenbeobachtungen belegen allerdings, dass ErzieherInnen dann mit MigrantInnenkindern Sprachförderarbeit betreiben, wenn sie die Didaktik und Methodik von DaZ gelernt haben.

Die Erwartung von Politikern, die sprachlichen Lücken der Migrantenkinder könnten sich während des Grundschulbesuchs kompensieren, erfüllen sich nur selten. Wie denn auch? Bei den meisten Kindern setzen sich, wegen fehlender Förderung, die sprachliche Defizite von Schuljahr zu Schuljahr fort.

Zwar wurde 1998 von der damaligen Schulsenatorin Ingrid Stahmer per Rundschreiben DaZ zum grundlegenden Kriterium aller Schulfächer erklärt und das Stundenvolumen für den Deutschförderunterricht erhöht, doch ohne merkbare Auswirkungen in der Praxis. Denn noch immer fehlt in Berliner Schulen ein entsprechender Rahmenplan, der den betroffenen LehrerInnen didaktische und methodische Hinweise zur Gestaltung ihres Unterrichts gibt. Und ein verbindliches Sprachförderkonzept steht auch weiterhin aus.

Erst seit zwei Jahren existiert in Berlin das Angebot einer einjährigen LehrerInnenfortbildung „Deutsch-als-Zweitsprache in der Berliner Grundschule“. Es ist eine Kooperationsveranstaltung des Landesinstituts für Schule und Medien (Lisum) und der TU Berlin. Im ersten Jahr nahmen daran 25 LehrerInnen teil, im laufenden Kurs sind es 50. Hier können sie ein Konzept für Deutsch-als-Zweitsprache erarbeiten, das sie in ihrer täglichen Arbeit umsetzen können. Vor drei Monaten erhielten die LehrerInnen und DozentInnen allerdings erst die „Handreichung Deutsch-als-Zweitsprache“, die von der Senatsschulverwaltung an Stelle eines DaZ-Rahmenplans entwickelt wurde. Damit diese Handreichung erfolgreich angewendet werden kann, braucht man ein DaZ-Praxisbuch mit entsprechenden Übungen. Niemand weiß, ob und wann es vorliegen wird.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Bereiche „Mehrsprachigkeit – sprachliche Förderung von Migrantenkindern“ in den Ausbildungsverordnungen der Lehramtsstudiengänge nicht berücksichtigt werden. Noch immer werden LehrerInnen für den Schuldienst, egal ob für die Grundschule oder für die Studienratslaufbahn, vornehmlich als ExpertInnen ihres Studienfaches ausgebildet. Das Ergebnis: Die Berliner Schule hat zum Beispiel gut ausgebildete GermanistInnen, die verzweifeln, wenn sie vor einer mehrsprachigen Klasse stehen.

Deshalb müssen Didaktik und Methodik von Deutsch-als-Zweitsprache umgehend für alle Studienfächer der Lehramtsstudiengänge verpflichtend und prüfungsrelevant werden. Erst dann kann die Berliner Schule gewährleisten, dass gut ausgebildete, DaZ-kompetente LehrerInnen von der ersten Klasse an Sprachförderunterricht betreiben, der sich sukzessive an den sprachlichen und thematischen Inhalten der Unterrichtsfächer orientiert. Genau das aber ist notwendig.