: Populisten setzen auf Sieg
Nach dem Mord an Pim Fortuyn ist der Ausgang der Wahlen in den Niederlanden unsicherer denn je. Eins scheint sicher: eine Niederlage der Sozialdemokraten
BERLIN taz ■ „Wir werden die Flinte nicht ins Korn werfen, nur weil Pim selbst nicht mehr antreten kann“, sagte am Sonntag in Rotterdam Mat Herben, der Sprecher von „Lijst Pim Fortuyn“ (LPF). „Die Ideen Fortuyns leben weiter, und ich bin mir sicher, dass wir am Mittwoch auch ohne ihn einen überwältigenden Wahlsieg einfahren werden.“
Ein Toter könnte die niederländischen Parlamentswahlen gewinnen. Die zweite Garde der LPF gibt sich zuversichtlich, morgen Abend nach Schließung der Wahllokale vorn zu liegen – auch ohne ihren charismatischen Frontmann, der am Montag vergangener Woche in Hilversum von einem 32-jährigen „Umweltaktivisten“ erschossen wurde. Meinungsforscher hatten der erst im Februar gegründeten Partei des Rechtspopulisten Pim Fortuyn, der mit ausländerfeindlichen Sprüchen („Der Islam ist eine rückständige Kultur“) Hollands Öffentlichkeit aufwühlte, zuletzt an die 20 Prozent der Stimmen in Aussicht gestellt.
Das war vor dem Attentat. Und vor der Trauerfeier in Rotterdam, bei der am vergangenen Freitag Zehntausende dem Premier in spe die letzte Ehre erwiesen. Seither tappen die Auguren im Dunkeln. Könnte die massenhafte Ehrenbezeugung für Fortuyn bedeuten, dass die LPF bei der Wahl noch spektakulärer abräumt als ohnehin von vielen befürchtet? Oder springen vordem überzeugte LPF-Wähler wieder ab, weil die Liste nun ohne ihre Führerfigur dasteht?
Wer zu wissen vorgibt, wie der Wähler morgen entscheiden wird, weiß offenbar mehr als der Wähler selbst. Nach Umfragen der liberalen Zeitung NRC Handelsblad wussten wenige Tage vor dem Urnengang gut 40 Prozent der Wähler noch nicht, wo sie ihr Kreuzchen machen wollen. Immerhin, so viel geht aus Gesprächen hervor, die NRC-Mitarbeiter nach dem Mord mit rund 600 Wahlberechtigten geführt haben, wird sich der Wähler sicher nicht aus Pietät oder Respekt für den ermordeten Politiker für die LPF entscheiden. Jüngsten Umfragen zufolge wird Fortuyns Liste auf 17 Prozent kommen.
Auf einen klaren Wahlsieger mag sich derzeit kein Institut mehr festlegen, der größte Verlierer indes steht fest: die sozialdemokratische PvdA von Ministerpräsident Wim Kok. Ihm lasten die Niederländer an, er und seine primär auf Arbeitsplatzbeschaffung und Haushaltskonsolidierung fixierte „lila“ Koalition hätten in ihrer achtjährigen Amtszeit keines der brisanten sozialen Probleme gelöst. Das betrifft die Wartezeiten in den Krankenhäusern, das Chaos auf den Straßen und im Schienenverkehr, die Misere im Bildungswesen, die Kriminalität in den Großstädten und die mangelnde Integrationsbereitschaft von Immigranten. All dies sind Punkte, die Fortuyn der Regierung Kok in den letzten Monaten in für holländische Verhältnisse ungewohnt provokativer Weise täglich um die Ohren gehauen hat.
Ob womöglich bald eine Volksbewegung wie die „Lijst Pim Fortuyn“ in Den Haag die Macht übernimmt, ist derzeit nicht vorhersagbar. Auch wer Wim Kok als Regierungschef ablösen wird, bleibt der Spekulation überlassen. Da die Regierungsparteien PvdA (Sozialdemokraten), VVD (Rechtsliberale) und D66 (Linksliberale) nach Meinung vieler Bürger abgewirtschaftet haben und schwere Einbußen werden hinnehmen müssen, könnte am Ende der christdemokratische CDA am meisten profitieren. Während des Wahlkampfs, der sofort nach dem Anschlag ausgesetzt worden war, hatte Pim Fortuyn wiederholt betont, nach der Wahl mit den Christdemokraten und Rechtsliberalen eine Regierung bilden zu wollen – unter seiner Führung, versteht sich.
Die Fraktionschefs von CDA und VVD, Jan-Peter Balkenende und Hans Dijkstal, die anfänglich von einer Koalition mit dem marktschreierischen Rechtspopulisten nichts wissen wollten, haben inzwischen „eingesehen“, dass, wenn sie die Macht wollen, auch nach dem „Ableben“ Fortuyns an dessen Aposteln kein Weg vorbeiführt.
Neben dieser rechten Option gäbe es noch die – weniger wahrscheinliche – Mitte-links-Allianz aus Sozialdemokraten, Christdemokraten, Linksliberalen und Grünen. In einer solchen Regierung säßen dann aber wieder Vertreter jener zwei Parteien, die der Wähler unbedingt „wegkatapultieren“ wollte, noch dazu womöglich unter der Führung des ungeliebten Ad Melkert (PvdA), eines farblosen Technokraten, der zum großen Vergnügen eines Millionenpublikums in jeder Talkshow vom eloquenten Pim Fortuyn vorgeführt wurde.
So oder so, die Protestpartei LPF hat ihre Funktion erfüllt. Ob die Kompetenz fürs Regieren reicht? Womöglich stellt sich die Frage ja gar nicht. HENK RAIJER
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