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peter ahrens über ProvinzHinter der Düne im Ford Escort

Wie das heilkräftige Nordseeklima für Fußball-Meisterschaften im Autoradio sorgte

Als in meinem Fernsehapparat vor Tagen Rudolf Scharping in Feldgrau am Horn von Afrika auf See posierte, erinnerte ich mich an meine erste Schiffsreise – als Vierjähriger, nach Amrum zur sechswöchigen Kinderlandverschickung zwecks Heilung von ostwestfälischem Asthma. Wer in dem Kindersanatorium sein Mittagessen nicht aufaß, musste so lange am Tisch sitzen bleiben, bis der Teller leer war. Und wer noch oder darob wieder in die Hose machte, wurde zur Strafe stundenlang auf die Toilette gesetzt, während die übrigen Kinder alle Muße hatten, die mitgebrachten Plüschtiere ihrer auf der Toilette festsitzenden Zimmergenossen zu zerstören. Für die Kinder, die noch nicht schreiben konnten, setzte die Heimleitung Briefe an die daheim gebliebenen Eltern auf, in denen ihnen vorgeschwärmt wurde, wie pudelwohl sich die Kinder fühlten, die gerade Strafsitzen auf dem Klo exerzierten. Nach den sechs Wochen war das Asthma weg, und die Eltern wunderten sich noch wochenlang, warum ihr Sohn plötzlich wieder Bettnässer war, wo er doch ansonsten so kerngesund erschien und so schöne Lieder gelernt hatte wie: „Mittagsschlaf ist großer Mist, fariafariaho, weil man gar nicht müde ist, fariafariaho.“ Es waren halt die wilden 70er-Jahre in Paderborn.

Da das Nordseeklima offenbar Wunder gewirkt hatte, wurden ab sofort im Familienurlaub die dänischen Strände angesteuert. Was in Sommern mit geraden Jahreszahlen ein Problem war, weil die dann stattfindenden großen Fußball-Meisterschaften nur aus der Entfernung mitzelebriert werden konnten. Es war noch nicht wirklich die Zeit von Pre-Select, Pay-per-View, Kirch-Insolvenz oder wie sich dieser technische TV-Schnickschnack (Vivi Bach nannte das damals Snicksnack) sonst nennen mag. So saß die Familie abends hinter der Düne im Ford Escort am knisternden Autoradio.

Fußball war das Ereignis meiner Jugend. Es fand immer weit weg statt, in unerreichbar fernen Städten, die interessante Namen hatten wie Mönchengladbach (in der „Sportschau“ auf diesen runden Scheiben, die Hajo Rauschenbach oder Ernst Huberty im Studio immer umdrehten, wenn ein neuer Beitrag anmoderiert wurde, abgekürzt als „M’gladbach“) oder Pirmasens.

Der einzige Farbfernseher der Familie im Haus stand ein Stockwerk höher bei der Großmutter. Bis dahin hatte die gesamte Familie nur tonlos vor dem Schwarzweißgerät gesessen, wenn bei der Wim-Thoelke-Show „3x9“ ein Wissenschaftler mit einem dunklen Spitzbart optische Täuschungen präsentierte, mit denen die Illusion eines Buntbildes auf die Mattscheibe gezaubert wurde.

Irgendwann wurde dann ein Farbfernseher für Großmutter geliefert, und die Welt war anders. Es folgte dieselbe Operation wie mit dem Auto am Strand: wieder zusammengedrängt, diesmal aber auf dem Plüschsofa ein Stockwerk höher.

Abende als ein Ritual, strengstens strukturiert: Beim Abspielen der Hymnen, wenn die Fernsehkamera langsam an den Kaugummi kauenden Gesichtern der bundesdeutschen Spieler vorbeifuhr, eröffnete meine Großmutter den Abend mit dem Satz: „Blass sehen unsere aus.“

Dermaßen pessimistisch eingestimmt, sank die Siegesstimmung vor dem Fernseher schon früh. Auch durch regelmäßige Äußerungen wie „Ach, ein Eckball, ich habe noch nie gesehen, dass daraus ein Tor entsteht“ wurde die Laune nicht besser. Jedes Mal, wenn sich das deutsche Team dem gegnerischen Tor näherte und der unwissende Zuschauer im Stadion zu schreien anhub, zerstörte meine Großmutter mit einem missbilligenden „Die sollen mal nicht so laut sein, dadurch sind die anderen doch gewarnt“ jegliche Hoffnung auf Torjubel.

In der Halbzeitpause wurde zu drastischeren Maßnahmen gegriffen: Meine Großtante Anna verdrückte sich ins Nebenzimmer, zündete zwei Kerzen an und schickte ein Stoßgebet an den Fußballgott. Da das Auge Gottes an diesem Abend aber offenbar ausnahmsweise nicht wohlgefällig auf seiner ansonsten dienstbarsten Dependance nördlich Roms ruhte, mussten wir folgerichtig ohnmächtig zuschauen, wie Uli Hoeneß die Kugel in den nachtblauen Himmel von Belgrad jagte und damit, um in einer mäßig eleganten Volte auf Rudi Scharping zurückzukommen, den Beschuss der jugoslawischen Hauptstadt quasi um Jahre vorwegnahm. Ist Uli Hoeneß’ FC Bayern schließlich so etwas wie die Nato des deutschen Fußballs.

Heute ist das natürlich alles ganz anders. Es gibt keine wackligen Bilder aus dem Ostblock mehr, auf denen sich lustige Schreibfehler in die Nachnamen der deutschen Spieler einschlichen. Heute kommentiert Kerner aus dem Ei gepellt, und nach Eckbällen fallen Tore. Früher war eben alles besser.

Nur das Flutlicht nicht. Dafür muss man nur mal Mette-Marit fragen.

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