Chaos in der Gefangenen-Zeltstadt

Mehrere Wochen nach der israelischen Großoffensive im Westjordanland sind noch rund 1.500 Palästinenser in Haft – vielfach ohne Rechtsgrundlage. Weder werden die Gefangenen einem Richter vorgeführt noch haben sie Zugang zu einem Anwalt

aus Jerusalem SUSANNE KNAUL

Für über 1.500 Palästinenser ist die „Operation Schutzwall“ – die israelische Invasion im Westjordanland – noch längst nicht beendet. Seit Wochen harren sie in provisorischen Zeltstädten aus, die Sicherheitskräfte neben israelischen Gefängnissen errichteten. Etwa die Hälfte der Männer befindet sich in Administrativhaft, die israelischen Gesetzen entsprechend bis zu drei Monaten dauern kann. Die restlichen wurden bislang weder einem Richter vorgeführt noch durften sie einen Anwalt sprechen. „Es besteht keine Rechtsgrundlage dafür, die Männer festzuhalten“, erklärt Tamar Peleg von der israelischen Menschenrechtsorganisation Moked Le Sruiot HaEsrach („Fokus für Bürgerrechte“).

Allerdings hatte der General des Zentralkommandos gleich zu Beginn der Militäroperation das „Gesetz 1500“ eingeführt, das die Richtlinien für Verhaftungen festlegt. Nach diesem Militärgesetz können Palästinenser bis zu 18 Tagen festgehalten werden, ohne einem Richter vorgeführt zu werden. „Wir haben zahlreiche Fälle, wo die Inhaftierung schon über 30 Tage andauert“, meint Peleg.

Rund 2.583 Anfragen erreichten den Moked seit Beginn der israelischen Militäroperation. Für die Familien, die ihre Söhne oder Väter suchen, bietet die Menschenrechtsorganisation eine der wenigen Möglichkeiten, in kurzer Zeit Aufschluss über das Schicksal ihrer Angehörigen zu bekommen. Laut Informationen des Moked befinden sich etwa 1.000 der Verhafteten inzwischen wieder auf freiem Fuß.

Gleichzeitig finden bis heute neue Verhaftungen statt. Erst Dienstag früh wurden in Tulkarem zwölf Palästinenser festgenommen. „Uns erreichen täglich rund 80 Anfragen von Verwandten“, meint Kurt Arenson vom Moked. Bis auf 151 Fälle hätten die Mitarbeiter den Verbleib der Vermissten aufklären können, darunter elf Todesfälle. „Ich fürchte, dass wir auch bei den ungeklärten Fällen einige Tote haben werden“, meint Arenson.

Oft sei die Suche schwierig, weil die Daten nicht genau aufgenommen wurden. Dazu kommt, dass sich die Entlassenen nicht unbedingt sofort beim Moked melden. „Einige der von uns Gesuchten sind vielleicht schon wieder auf freiem Fuß.“ Auch von der Armee sind nicht immer akurate Daten zu erhalten. „Es besteht ein großes Durcheinander“, berichtet Rechtsanwältin Peleg. „Erst heute früh erreichte mich ein Anruf von der Familie eines Verhafteten, der seit 48 Tagen festgehalten wird, ohne einen Richter gesehen zu haben.“

Peleg gehört zu den wenigen, die die Haftlager besuchen durften. Es habe „Tage gedauert“, bis die Zelte aufgestellt wurden. Bis dahin „schliefen die Männer auf dem nackten Boden und waren strömendem Regen ausgesetzt“. Auf Eingabe des Öffentlichen Komitees gegen Folter in Israel, das vor das Oberste Gericht zog, um die Haftbedingungen zu verbessern, wurden die Palästinenser mit zusätzlichen Decken, Matratzen und „Nahrung entsprechend dem Armeestandard“ versorgt, heißt es in einem Schreiben des zuständigen Kommandanten für das Ketziot-Gefängnis. Doch gebe es „aus Sicherheitsgründen“ keine Stromanschlüsse. „Die Leute können sich weder Kaffee machen noch Radiohören“, schimpft Peleg, „Das sind Bedingungen, die selbst den ganz Gefährlichen, die in den Gefängnissen festgehalten werden, zugestanden werden.“

Einer der „ganz Gefährlichen“ sitzt derzeit in Jerusalem in Untersuchungshaft. Marwan Barghuti, Chef der Fatach im Westjordanland, wurde am 15. April verhaftet. Schon nach drei Tagen durfte er seinen Anwalt sehen, allerdings nur im Beisein eines Vertreters des inländischen Nachrichtendienstes Schin Beth und vorläufig nur dieses eine Mal. Nachdem Gerüchte über eine Krankheit Barghutis und seine Verlegung in eine Klinik aufkamen, durfte Anwalt Jawad Boulos die Untersuchungsanstalt betreten, seinen Klienten indes nur aus der Ferne beim Rundgang im Hof sehen, ohne dass Barghuti davon wusste. Boulos’ Antrag vor dem Obersten Gerichtshof, seinen Klienten erneut sprechen zu dürfen, wurde am Dienstag abgelehnt.

Unklar bleibt, ob Barghuti vor ein israelisches Gericht gestellt wird. Die auflagenstärkste Tageszeitung Yediot Achronot hatte ihm kurz nach seiner Verhaftung eine Haftstrafe von „bis zu 250 Jahren“ prognostiziert. Dementgegen hat die israelische Oberstaatsanwaltschaft Zweifel, ob überhaupt gegen Barghuti Anklage erhoben werden sollte. „In manchen Fällen sind Sicherheitsinteressen und die Interessen des Staates wichtiger als der öffentliche Wunsch nach einer Verhandlung“, meinte die Staatsanwältin Edna Arbel.