Der Weltreisende in eine andere Denkart

Er ist kein Baum, an den man sich lehnt, und auch kein heimlicher Chatter. Einen Fankreis hat der unbelehrbare Gelehrte, der unverbesserliche Weltverbesserer, Peter Grottian, dennoch. Heute wird der Professor für politische Wissenschaften an der Freien Universität 60 Jahre alt

Peter Grottian kämpfte in diesem Jahr für einen friedlichen 1. MaiDas 1.-Mai-Konzept ist erst einmal „erfolgreich gescheitert“

von WALTRAUD SCHWAB

Als Peter Grottian anfing, sich an Ideen zu verschwenden, war er längst aus jenem Alter heraus, in dem einer Piratenhäuptling, Revolutionär, Bayerntorwart oder gar Papst werden will. Im richtigen Leben nämlich ist alles ganz anders und mit 60, was der Mann heute wird, stellt sich die Vergangenheit ohnehin bereits ein wenig verklärt dar, weil die Erinnerung sich vor allem aufs Täuschen versteht.

Grottian ist Professor am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität in Berlin. Der Fachbereich Politische Wissenschaften war einmal eine Kaderschmiede, an der gerne quer gedacht wurde. Noch wird, wenn auch in bescheidenerem Maße, seit es aus der Mode gekommen ist, die Welt aus der Negation begriffen. Heute lockt der Mainstream. Passé dagegen ist jene Perspektive, die mit Vorliebe das Vermeintliche hinterfragt. Grottian ist einer, der sich trotzdem gern überall einmischt und weiter Kurs hält in die Antirichtung. „Wenngleich dazu mittlerweile mehr logistisches Feingefühl notwendig ist als früher“, sagt er. Und wie meint er das?

Arbeitsmarktpolitik, Grund- und Menschenrechte, Geschlechterdemokratie, neue soziale Bewegungen, Großstadtpolitik, Jugendrevolte sind Themenfelder, die Grottian beackert. Das macht er konstruktiv negierend. Konstruktiv, weil er bei seiner Analyse solcher Probleme den Menschen im Blick hat, dem es besser gehen soll. Negierend, weil er meint, dass Politiker und Industrielle ebenfalls behaupten, dem Wohle der Allgemeinheit zu dienen, sich dabei aber seit Jahren am Marktwert orientieren. Wer, wie Grottian, annimmt, dass sich so etwas ausschließt und deshalb auf Widersprüche verweist, lebt mit dem Nimbus, ein Alter Ego der Kassandra zu sein. Klar: Der Vergleich schmeichelt.

Angenommen, Grottian sage wirklich die Wahrheit, die keiner hören will, mag das bei aller Richtigkeit vor allem daran liegen, dass er sie in wohlformulierten Sätzen und in immer gleicher Intonation vorbringt. Egal über welches Thema er spricht. „Arbeit muss jenseits der Marktlogik neu definiert werden“, sagt er, und niemand hört die Provokation. Ein anderes Mal geht er emotionslos gegen seinen Berufsstand vor: „Es ist töricht anzunehmen, dass ein schlauer Aufsatz in einer Fachzeitschrift etwas bewirkt.“ Kritisiert er die Grünen, gleitet es als „sie haben sich die ganze Regierungszeit weggeduckt“ vorbei. Gewandt kehrt er bei weiterer Gelegenheit auch schon mal Ideologisches vom Tisch, ohne dass jemand es merkt: „Realitätsblind können Rechte wie Linke sein.“

Wenn es um seine Ideen geht, wird Grottian präzise, sich selbst handelt er unter „a. a. O.“ ab. Also nicht hier, sondern dort. Für ihn sind Ideen, was für andere die Briefmarken- oder Kuckucksuhrensammlung ist. Nur dass die Sammler der Letzteren zeigen können, womit sie ihre Zeit verbringen, er aber hat seine Kollektion im Kopf. „Zu allem und jedem hat er was zu sagen“, behaupten entsprechend seine Bewundererfeinde. Wer er wirklich ist, wissen sie nicht.

Scheidungskind ist er, mit 16 von zu Hause weg, politisiert erst, als er Anfang der 70er-Jahre beginnt, an Universitäten zu lehren. Denken wird Grottians Beruf. Honoriert nach der Hochschullehrerbesoldungstabelle. Dabei kommt er vor mehr als zwanzig Jahren zur Erkenntnis, dass Überlegen eine Beschäftigung ist, der er nicht nur im Beruf, sondern auch in der Freizeit nachgehen kann. Er beantragt deshalb, dass es ihm erlaubt sei, seine Professorenstelle um ein Drittel zu kürzen. Sein Kollege Wolf-Dieter Narr tut es ihm gleich. Die gesparten Zweidrittel sollen für eine neue Nachwuchsprofessur eingesetzt werden, die von einer Frau besetzt werden soll. Fünf Jahre dauert es, bis der Plan durch ist. Eigens das Hochschulrahmengesetz muss dafür geändert werden. Fantast, der Grottian ist, hofft er, dass er genug Nachahmer fände, um weitere 500 Stellen an den Universitäten zu schaffen. Ungefähr 120 sind es geworden. „Superverdienstvoll“, sagen Frauenrechtlerinnen.

Grottian möchte, dass das, was in der Politikwissenschaft geschieht, ein Echo hat im Alltag. Und umgekehrt. Dafür animiert er seine Studenten, sich in Selbsthilfeprojekten, Parteien, Gewerkschaften zu engagieren, oder er geht mit ihnen in die U-Bahn und inszeniert dort rassistische und sexistische Anmache. Die Studenten müssen eingreifen, mit den Passanten Diskussionen anzetteln, sich exponieren in aller Öffentlichkeit. Ein anderes Mal initiiert er Arbeitslosenproteste und publiziert in der Boulevardpresse. Einmal war er nicht unschuldig daran, dass das Institut gepflastert war mit studentischen Bewertungen der Professoren, um auf Missstände aufmerksam zu machen. Grottians Credo: „Ihr müsst euch einer Sache aussetzen.“

Dialog und Kommunikation liegen dem Professor am Herzen. Nicht das Fertige tauge dazu, die Gedanken zu schärfen, vielmehr gilt: „Die Leerstelle ist Lehrstelle.“ Niemals dürfe es, so Grottian, in den Geisteswissenschaften darum gehen, dass Studenten das Vorgesagte der Dozenten reproduzieren. Er selbst will von seinen Hochschülern und -schülerinnen nicht ohne Rücksprache fertige Semesterarbeiten vorgelegt haben, sondern zunächst Rohentwürfe. Da, wo es Fragen, Unwissenheiten und Unsicherheiten gibt, wird diskutiert. Seine Studenten sind meistens begeistert. Sie finden ihn „cool“, obwohl er auch „zu cool“ sei.

Als Professor ist Grottian unprofessorisch, als Gelehrter unbelehrbar, als Weltverbesserer unverbesserlich. Die Verneinung ist ein Kunstgriff, als Negativausschluss sogar viel genutzte Methode. Etwas ist, was es nicht ist? Einer ist, was er nicht ist? Ob Grottian, der Mensch, den alle kennen, aber niemanden kennt, auf diese Weise beschrieben werden kann, muss der Praxistest zeigen. Auf jeden Fall lässt sich über ihn sagen, dass er sich nicht heimlich in den Chatrooms der Welt tummelt, denn der Zugang zur virtuellen Welt ist ihm bis dato versagt. E-Mails beantwortet die Sekretärin. Fahrradfahren in der Stadt ist für diesen Gelehrten auch kein Vergnügen. Seit die in Kreuzberg beheimateten Weltrevolutionäre sein Auto anzündeten, benutzt er die öffentlichen Verkehrsmittel – bis der Versicherungsfall geklärt ist. Außerdem, so viel ist ebenfalls klar, sind ihm Armani-Anzüge egal. Lieblingskleidungsstück, das seine Leibesfülle umschmeichelt, ist eine ärmellose Trachtenjoppe, nur aus rechten Maschen gestrickt. Trotzdem sei er „kein Baum, an den man sich anlehnen möchte“, wie eine ehemalige Kollegin meint. Unerwähnt bleiben darf aber auf gar keinen Fall: Stallgeruch einer Bewegung hängt ihm nicht an.

Verneinung als Bejahung lernte Grottian, als er Indien bereiste. Dort begreift er, wie es ist, „wenn einer sich neben sich stehen sieht. Wenn er kapiert, dass er nichts versteht.“ Seither ist seine Neugier geschürt. Er will sehen, wie etwas auch anders geht. Er will ein „Weltreisender in die andere Denkart“ sein.

Zweifelhafte Popularität und erwähnter Verlust seines Autos sind das Ergebnis seines letzten Ausflugs ins andere Denken. Einen runden Tisch hat er in Berlin ins Leben gerufen, an dem die mittlerweile traditionelle Mai-Randale in Kreuzberg neu gedacht werden soll. Statt hart durchgreifender Staatsgewalt fordert er einen polizeifreien 1. Mai, und statt mit Krawall soll der Tag der Arbeit von den Eintagsrevolutionären wieder mit politischen Inhalten gefüllt werden. Mit seiner Intervention sieht sich Grottian „erfolgreich gescheitert“.

Noch auf der Kundgebung vor der „Revolutionären 1. Mai Demonstration“ wird Grottian am Mikrofon nicht müde, für den politischen Minimalkonsens zu werben. „Verarmung der Stadt“ und „kein Krieg“. Die anderen politischen Gruppierungen lassen sich nicht darauf ein. Die Vielfalt zu zeigen, sei an diesem Tag politisch genug. Grottian gibt nicht auf. Zwölf Stunden lang begleitet er verschiedene Mai-Demonstrationen. Er versucht zu verstehen, was er sieht. Und er sieht ein Dilemma: Eine Bewegung braucht Vordenker. Er kann es nicht sein. Nachts spricht ihn in der Oranienstraße ein betrunkener Punk an, der zwischen herumliegenden Dosen und Pflastersteinen nach Orientierung sucht. Er fragt den Professor, ob er ihm was koche. „Nein“, sagt Grottian. „Danke für nichts“, antwortet der Kreuzberger Punk.

Grottian denkt bereits über neue Einmischungen nach. Diesmal könnte es Leute ganz anderer Provenienz gegen ihn aufbringen. Politiker beispielsweise. Berliner Volksvertreter auch. Denn dass eine bankrotte Bankgesellschaft mit Milliarden von Euro risikoabgeschirmt werde und dabei die Gewinnausfälle zweifelhafter Fonds aus öffentlichen Geldern gedeckt würden, dafür aber der Bankrott des Gemeinwesens in Kauf genommen wird, das wird Protest provozieren, wenn die Zusammenhänge erst einmal deutlich sind, meint Grottian. Dass die Fondseigner gar Persönlichkeiten aus Politik, Kultur und den Medien sein sollen, an die nun Geld fließt, das eigentlich der Stadt zugute kommen müsste, öffne einem Aufbegehren der Bürger die Tür. „Man kann einiges lernen, wenn man es angeht.“

Wer Grottian dieser Tage trifft, sieht, dass er nachdenkt. Es gehe um Demokratie, um die Grundlagen der Politik und um Zukunft. Dafür muss was getan werden. Selbst wenn Rückschläge nicht ausgeschlossen sind. Ganz nach dem Beckett’schen Motto: „Scheitern – wieder scheitern – besser scheitern.“