: Mein Freund Kasimir
Kassetten sind Bilder für die Ohren. Bekannt, vertraut oder ganz neu: Jeder Tag braucht sein Tape. Musik ist so wichtig wie Sonne im Sommer und der Gang zur Kassettenkiste wichtiger als der zum Kleiderschrank
von CHRISTINA VELDHOEN
Ka|si|mir der [Urlaubsdeutsch] von fünf Hamburgerinnen auf Formentera. Abgeleitet von Kasis für ↑ Kassetten und Kase, Kasentoaster oder Kasendreher für ↑ Kassettenrekorder. Im Laufe eines Urlaubs wurde aus dem technischen Gerät der „gute Freund Kasimir“ und der Gang zum Strand erst angetreten, wenn die Frage „wer hat Kasimir“ beantwortet war.
Jeden Morgen vor der Schule stelle ich mir eine schwere, aber essenzielle Frage. Dabei stehe ich nicht etwa vor meinem Kleiderschrank, sondern vor meiner Kassettenkiste. Die Frage lautet nämlich: Welche Musik bringt mich durch diesen Tag?
Das ist ungefähr so wichtig wie Sonne im Sommer. Ohne Musik geht einfach gar nichts. Naja, und ich finde, so eine Kassette ist einfach was anderes als MiniDisc, CD oder gar mp3. Da kann mich auch die bessere Klangqualität nicht überzeugen. Jede meiner Kassetten hat ihr eigenes Gesicht. Da könnte ich nie, so wie bei MiniDiscs, ein Lied löschen, nur weil ich es nicht mehr so gerne mag. Jedes Lied hat seinen Platz, und da muss es auch bleiben. Deswegen bedarf es auch viel mehr Überlegung, wenn man sich ein Tape macht.
Und wenn man eins geschenkt bekommt, dann weiß man, dass da was von der Person drinsteckt, die es gemacht hat. Das ist nicht vergleichbar mit einer gebrannten CD. Schon die Hüllen von all meinen Kassetten sind besonders. Immer bunt und beklebt. Und sie passen zu der Musik auf dem Tape. Ein paar von meinen Kassetten höre ich nur ganz selten. Die hab ich dann schon fast vergessen, aber sobald ich sie in meinen Walkman schmeiße, habe ich wieder das gleiche Gefühl im Bauch und das Tape ist sofort wieder ganz vertraut. Besonders, wenn es mich an eine bestimmte Zeit erinnert.
Es bleiben fast immer dieselben Stellen in den Liedern, die mich glücklich oder traurig machen. Und wenn ein neues Tape dazukommt, kann ich mich tagelang darüber freuen. Das ist ein bisschen, wie an einen Ort zu kommen, an dem man noch nie war. Da muss man sich dann erst mal umgucken und alles entdecken. Dabei ist man ja auch total vertieft und weit weg von dem Rest. Genauso ist das bei Kassetten. „Bilder in dein Ohr wie zuvor nie gesehen“ ...
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