: Das Sonntagsgefühl
Von der Ödnis des siebten Tages. Sogar die Suche nach Schokolade bleibt vergeblich und das Telefon still. Wie gut, dass man nach jedem Sonntag eine Woche Ruhe hat vor diesem Tag, dem schlimmsten Tag der Woche
von MERLE ZADEH
Regentropfen rinnen das Fenster hinab, durch die Scheibe fällt das trübe Licht eines grauen Morgens. Grau ist auch das Gesicht, das mir aus dem Spiegel entgegenblickt. Die Spuren der letzten Nacht sind unverkennbar, und so dunkel wie meine Augenringe ist auch mein Gemütszustand.
Es ist Sonntag, der schlimmste Tag der Woche. Die Annahme, der Montag nähme diese Position ein, kann ich nur belächeln. Keine Frage – Montage sind auch nicht toll; aber keiner von ihnen hält so viele dumpfe, qualvolle Stunden bereit, wie ein Sonntag, an dem man auf den Montag wartet. Dabei ist der Nachmittag, in den ich unangenehme, aber dringende Arbeiten zu schieben pflege, noch abscheulicher als der Morgen. Noch scheußlicher ist nur ein verregneter Sonntagnachmittag. Sonntage sind außerdem langweilig, und man wird nie richtig wach. Am schlimmsten ist das im Winter, wenn es kurz nach dem Aufstehen wieder dunkel wird und man eigentlich den ganzen Tag im Schlafanzug rumlaufen oder einfach im Bett bleiben könnte. Doch auch im Sommer gibt es wenig, wofür das Aufstehen lohnt.
Die eine Hälfte der Freunde schlägt sich an diesen Tagen mit ihrem Kater rum – ebenfalls schlecht gelaunt. Die andere Hälfte ist bei Oma zu Kaffee und Kuchen eingeladen und nicht zu erreichen. Man könnte sich jetzt noch auf alte Traditionen besinnen und mit den Eltern einen Spaziergang unternehmen – doch scheinen sich die Wolken am Hamburger Himmel gerade sonntags besonders wohl zu fühlen. Keine gute Idee also.
An Sonntagen scheint die Welt stillzustehen, doch diese Stille ist nicht entspannt, sondern zäh und listig. Wie eine Spinne, die ihr Netz immer enger um ihr Opfer zieht, so wickelt einen der Sonntag langsam in seine Fäden ein, um einen dann schließlich genüsslich dem Montag zum Fraß vorzuwerfen.
Natürlich ist das die „Das-Glas-ist-halb-leer-statt-halb-voll“-Mentalität. Statt stumm und gelähmt den Sekundenzeiger der Wanduhr anzustarren und die Zeit totzuschlagen, müsste man sie eigentlich genießen und für Dinge nutzen, für die sonst die Zeit fehlt ... Funktioniert aber nicht! Stattdessen drücke ich mich davor, das Chaos im Zimmer endlich zu beseitigen, den Flur zu saugen oder Hausaufgaben zu machen – und verbringe den Tag damit, über den Sinn des Lebens zu grübeln und mich und mein Leben in Frage zu stellen.
Während ich mich aus dem Bett quäle, um mich auf die Suche nach Schokolade zu machen, überlege ich, ob andere Leute an Sonntagen auch so selten angerufen werden. Mein Telefon verweigert gerade an solchen Tagen jegliches Klingelzeichen. Und mein Anrufbeantworter glotzt mich mit seiner Doppelnull-Anzeige blöde an. Ich entfliehe seinem schadenfrohen Blinken in die Küche, wo ich sämtliche Vorratsschränke nach Nervennahrung durchforste – doch neben Heringen in der Dose und eingeschweißter Roter Beete liegt da nur eine Packung mit uralten Käsecrackern. Resigniert breche ich die Suche ab, nur um zehn Minuten später erneut die Schränke zu inspizieren, ob sich nicht vielleicht doch ein Schokoriegel in der hintersten Ecke versteckt hält –natürlich ohne Erfolg.
Ich ziehe mir also meinen Mantel über den Schlafanzug und gehe mit gesenktem Kopf und tief ins Gesicht geschobener Mütze zur nächsten Tankstelle. Zusammen mit der dort erstandenen süßen Beute begebe ich mich zurück ins Bett und schalte mich den restlichen Nachmittag und Abend durch das sonntägliche Fernsehprogramm. Ein schlechter Liebesfilm, bei dem ich irgendwann einschlafe, beendet schließlich diesen Sonntag. Wie gut, dass der nächste erst in einer Woche kommt!
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