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Die Zauberformel aus Buxtehude

Alle in der Stadt sind begeistert, doch das Landesjugendamt hält das Projekt für illegal

aus Buxtehude ASTRID GEISLER

Die „Villa Rapunzel“ liegt am Stadtrand von Buxtehude und wirkt, als warte sie auf einen rettenden Zauberspruch. Hinter dem Dach der Kindertagesstätte teilt ein Fabrikschlot den Himmel. Eng wie ein Vorgarten drängt sich der Spielplatz ans Haus. Der Weg dorthin führt vorbei an verlassenen Lagerhallen, leeren Höfen, geborstenen Tanks, zersplitterten Fensterscheiben. Traurig sieht die Industriebrache aus. Der Bundeskanzler würde hier einfach vorbeibrausen und gar nicht ahnen, was er verpasst.

Dabei bietet die „Villa Rapunzel“, was die Regierung im Wahlkampf verspricht: Hilfe für berufstätige Eltern. Vor Jahren hat der Saftkonzern Granini International das Gelände geräumt. Der dreijährige Tom weist zu einem Türmchen auf dem Dach der Kindertagesstätte: „Rapunzel“, sagt er, „ist auch schon lange weg.“ Toms Mutter hat keinen Blick für die Schönheitsfehler der Anlage: „Wie ein Geschenk des Himmels“, sei das Projekt für sie, sagt Ellen Hadrys. „Ich hätte sonst kündigen müssen.“ Stattdessen bezog ihr Sohn als eines der ersten Kinder im vergangenen Sommer den einstigen Granini-Verwaltungsbau, seit neun Monaten Buxtehudes „Kindergarten für Betriebe“.

Ellen Hadrys stand im vorigen Frühjahr am Ende des Erziehungsurlaubs und wusste nicht weiter. Eigentlich hatte sie keine besonderen Ansprüche. Halbtags, am Vormittag, wollte die 33-Jährige wieder arbeiten, in der Verwaltung der Stadtwerke. Aber wohin mit Tom? Ein Kindergarten in ihrer Nachbarschaft wollte den Dreijährigen zwar nehmen, aber nur zwischen 14 und 17 Uhr. Oder gar nicht. Einige Wochen improvisierte Familie Hadrys: Sie brauchte den Jahresurlaub auf, ihr Mann arbeitete Spätschicht als Elektriker, eine nach der anderen, mittags fand eine kurze Wachablösung im Wohnzimmer statt. Kam er nachts heim, lag sie längst im Bett. Ellen Hadrys sagt: „Es war chaotisch.“

Es war absolut normal, würde Ursula Reinke behaupten. Hunderte solcher Fälle hat die Frauenbeauftragte der Stadt Buxtehude erlebt. Immer passten die Angebote der Kindergärten nicht zu den Jobs der Eltern. Reinke lächelt mitleidig: „So kann doch keine Eltern-Kind-Beziehung gedeihen!“ Acht Jahre hat die ehemalige Erzieherin mit Unternehmen verhandelt. „Ich wollte berufstätigen Eltern“, Ursula Reinke korrigiert sich, „ich wollte Müttern die Chance geben, ohne schlechtes Gewissen zu arbeiten.“ Aber keine Firma in Buxtehude wollte eine Kita gründen. Da führte Ursula Reinke mehrere Unternehmen zusammen. Im „Kindergarten für Betriebe“ buchen Buxtehuder Firmen nun Plätze nach Bedarf, nur einen oder gleich fünf, der Airbus-Zulieferer wie der Steuerberater.

Einen der Plätze bekam Tom. Seither setzt Ellen Hadrys den Sohn morgens um kurz nach halb acht in der „Villa Rapunzel“ ab. Fünf Stunden später lädt sie ein sattes, müdes Kind wieder ein. Muss Ellen Hadrys im Büro überziehen, genügt ein Anruf – Tom bleibt einfach länger. Und wenn die 33-Jährige zur Fortbildung fährt, holt ihr Mann den Dreijährigen erst nachmittags oder auch abends ab.

Kinderbetreuung im Takt der Arbeitswelt. Der „Kindergarten für Betriebe“ öffnet um halb sieben und schließt nicht vor 18 Uhr, sechs Erzieherinnen sind im Einsatz. Es gibt eine Krabbelgruppe für die Kleinen, eine Hausaufgabenhilfe für die Großen, den Hol- und Bringdienst für Schulkinder und einen Mittagstisch, an dem auch Eltern willkommen sind. Arbeitet die Mutter im Schichtdienst, dürfen die Kinder in Schichten spielen, notfalls täglich zu einer anderen Zeit.

Um kurz vor acht hat Ulla Grill, die Leiterin des „Kindergartens für Betriebe“, gerade einen Erstklässler in die Schule gefahren. Ein zeitraubender Service, in ein paar Stunden muss sie den nächsten abholen, doch gerade für Plätze für schulpflichtige Kinder stehen Buxtehuder Eltern Schlange. Auch an diesem Tag warten zwei Arbeiter in Blaumann auf die Kindergarten-Chefin, wollen wissen, wann für ihre Kinder ein Platz frei wird. 40 davon kann die „Villa Rapunzel“ vergeben, an Kinder von sechs Monaten bis 14 Jahren. Über 20 Eltern stehen auf der Warteliste.

„In Buxtehude sind alle begeistert von dem Projekt“, sagt Ulla Grill. „Auch unsere Eltern sind total zufrieden.“ Wer der Kindergarten-Chefin eine Weile zuschaut weiß, dass sie so etwas nicht leichtfertig behaupten würde. Eine milde, zurückhaltende Person ist sie, eine, die fast lautlos den Betrieb organisiert.

Stünde die „Villa Rapunzel“ in Grimms Märchenland, so würde der König Frau Grill nun zum Dank bei Hofe empfangen und sie mit Gold überschütten. Doch in der Bundesrepublik bekommt der „Kindergarten für Betriebe“ stattdessen Ärger – wegen Verstoßes gegen das niedersächsische KiTaG, also das Kindertagesstättengesetz. Ulla Grill spricht ungern über den Streit, sie will nicht aufwiegeln. „Die im Landesjugendamt stellen sich so quer“, sagt sie schließlich. „Dabei machen wir genau, was die SPD in ihrem Grundsatzpapier will. Arbeitnehmerfreundlichkeit und so. Und hier in Niedersachsen ist doch alles SPD.“

Das Landesjugendamt meint, die „Villa Rapunzel“ zähle ihre Kinder falsch. Die Initiative kalkuliert das Personal so, wie die Kita funktioniert: variabel, ausgerichtet an der Zahl der Kinder, die zu bestimmten Tageszeiten tatsächlich da sind. Illegal, urteilt die Behörde, weil das KiTaG eine Kalkulation verlange, die sich nach der Zahl aller angemeldeten Kinder richtet. Die Konsequenz: Das Amt hat für die Betriebserlaubnis mehr Personal gefordert oder weniger Plätze. Ulla Grill fürchtet, dass sie bald einige Kinder aus der „Villa Rapunzel“ rauswerfen muss.

Die Kita-Dezernentin im Landesjugendamt kennt die schwierige Lage der Kinderbetreuung in Niedersachsen. Im Land gibt es nicht einmal zehn Betriebskitas. „Löblich“ und „begrüßenswert“ nennt die Dezernentin deshalb das Buxtehuder Projekt. Doch zu den Paragrafen des Kita-Gesetzes sieht sie keine Alternative. „Wir sind eine nachgeordnete Behörde, die das Gesetz zur Grundlage hat.“ Und das Gesetz, erklärt die Beamtin, müsse jeder einhalten – „zum Schutz der Kinder“.

Ginge es ihren Söhnen Max und Adrian besser, wenn sie „mit einer frustrierten Mutter daheim säßen“? Angelika Lanwehr betreut Langzeitarbeitslose in der Nachbarstadt Stade, wochentags ist sie allein erziehend, ihr Mann arbeitet in Genthin in Sachsen-Anhalt. Beim Thema Kindergarten fällt es der höflichen Dame schwer, Haltung zu wahren: „Völlig schwachsinnig“, findet sie, was das Land den Müttern an Kinderbetreuung bietet. Familie Lanwehr hat privat für die Söhne zwei Plätze in der „Villa Rapunzel“ ergattert. „Aber die jungen arbeitslosen Mütter, die in meinem Programmen sitzen, denen bietet niemand so etwas. Mit ihren Kindern sind die nicht mehr nützlich für die Gesellschaft und werden nur noch rumgeschubst.“ Ohne Betriebskindergarten müsste die Pädagogin den knapp zweijährigen Max morgens zu einer Tagesmutter schaffen, Adrian zur Schule bringen, den Erstklässler mittags wieder abholen, Essen kochen, seine Hausaufgaben nachsehen und irgendwann Max abholen. „Da könnte ich gleich daheim bleiben.“ Stattdessen fährt Angelika Lanwehr Max morgens im Fahrrad-Anhänger zur „Villa Rapunzel“, Adrian bringt sie direkt in die Schule, am späten Nachmittag holt sie beide wieder ab. Den Rest regelt Ulla Grill.

Familie Lanwehr hatte Glück, was genau genommen traurig ist. Max und Adrian können in der „Villa Rapunzel“ spielen, weil sich Buxtehuder Betriebe nicht um das Projekt reißen. So sind Plätze für Kinder übrig, deren Eltern nicht in der Stadt arbeiten. Neun Firmen belegen bisher nur knapp ein Drittel des Angebots, obwohl der Wirtschaftsförderverein für das Projekt wirbt, genau wie alle Rathaus-Parteien.

Die Betreuung kostet Geld, monatlich 210 Euro verlangt die Initiative von Betrieben für einen Ganztagsplatz. Die Eltern zahlen dieselbe Gebühr wie in anderen Kindergärten, der Betrag orientiert sich am Einkommen.

„Alle wollen ein gutes System“, sagt Jan Snedker, „aber keiner will zahlen.“ Jan Snedker weiß, wovon er spricht – auch von der eigenen Firma. Seine Apotheke hat im März drei Plätze in der „Villa Rapunzel“ gebucht, für die Kinder des Inhabers. Die Familie würde nicht nur die normalen Kindergartengebühren zahlen, sondern obendrauf für jedes Kind den Firmenzuschuss. Eine Summe, dass er nur den Kopf schütteln konnte, sagt Jan Snedker. Den genauen Betrag hat er lieber vergessen. Tristan (4) und Rebecca (6) testen jetzt einen anderen Halbtagskindergarten, einen, der keinen Zuschuss verlangt. Bleibt Leif. Der Einjährige bekäme in normalen Kitas nicht mal einen Halbtagsplatz.

Um kurz vor drei holt Jan Snedker den jüngsten Sohn aus der „Villa Rapunzel“ ab. Ein unwirsches Durchfall-Kind hatte er am Morgen vorbeigebracht. Jetzt sitzt Leif im Glasvorbau und genießt das besondere Angebot: Apfelscheiben, Bananenstücke und vor allem dem Ausblick. Nicht auf den Teich jenseits der Landstraße, sondern auf die Fahrbahn. Gerade ist Papas Auto abgebogen, Laster und Traktoren donnern vorbei, sogar orange Straßenreinigungsautos.

Vielleicht fährt ja irgendwann auch der Kanzler nach Buxtehude, stoppt an der „Villa Rapunzel“. Er müsste nicht mal einen Zauberspruch aufsagen. Die Kindergartenleiterin hätte schon eine Idee. Sie lautet: „Unterstützt uns als Modellprojekt.“

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