Verdorrte Nelken

Gefangen in Selbstgesprächen: Spröde und konzentriert arbeitet Andreas Dresen in „Zeugenstand – Stadtguerilla-Monologe“ am Deutschen Theater in Berlin die Entführung von Peter Lorenz auf

von STEFAN REINECKE

Am Anfang dröhnt Hubschrauberdonner aus den Boxen. Die Bühne ist leer. Demobilder von 1967 werden auf die nackten Wände projiziert: Ho-Chi-Minh-Plakate, Polizeiketten, Symbole der Revolte. Sind wir im Kino? Nein. Andreas Dresen ist Filmregisseur, aber er inszeniert Film wie Theater, nicht umgekehrt.

„Zeugenstand“ ist, nach diesem Intro, knapp, konzentriert bis zum Spröden: sechs Monologe, frontal zum Publikum gesprochen. Wir sehen, nein, wir hören reines, asketisches Sprechtheater, fast ohne visuelle Aufheller. Das ist mehr als ein ästhetisches Konzept, es ist eine politische Aussage: Dresen erzählt die Geschichte des bewaffneten Kampfes, der „Bewegung 2. Juni“ und der Entführung des CDU-Politikers Peter Lorenz anders als im Kino: streng dokumentarisch entlang von Selbstzeugnissen, jenseits von Retroschick, Popdiskurs und Faszination für Baaders Autos.

Die Bühne ist ein betonnüchterner Raum, die Figuren bewegen sich darin wie Verlorene. Das mag ein Gerichtssaal sein, aber hier wird niemandem der Prozess gemacht, kein Urteil der Geschichte inszeniert, es ist ein Ort der Selbstbefragung. Sonja (Steffi Kühnert), Inge Viett nachempfunden, erzählt, wie alles anfing. Man versuchte, eine abgelegene Post auszurauben. Das ging schief, weil die Postbeamtin einfach schreckensbleich umfiel, das Geld unerreichbar blieb. Auch der erste Bankraub misslang, weil die Befreiungskämpfer im letzten Moment ihre Verkleidung albern fanden. „Wir sahen aus wie die Marx-Brothers“, sagt Sonja. Der bewaffnete Kampf ist keine Heldenpose, sondern ein Handwerk, das man erlernen muss.

Dann tritt die Witwe eines Opfers auf: Charlotte von Rodenberg (Christine Schorn), der Frau des 1975 von der „Bewegung 2. Juni“ ermordeten Berliner Richters Günther von Drenkmann nachgeformt. Eine disziplinierte Bürgersfrau, bewegend in ihrer Unbewegtheit. Abends klingelte ein Fleurop-Mann mit Blumen, sie öffnete die Tür, ein Handgemenge, ein Kampf, am Ende lag ihr Mann tot in ihrem Arm. Sie berichtet langsam, die Zeit scheint sich fast endlos zu dehnen, so wie in einer Slowmotion-Gewaltszene in einem Sam-Peckinpah-Film … Die Blumen, sagt sie starr, hat die Polizei vergessen. Tagelang lagen die Nelken im Flur, bis sie verdorrt waren.

Dresen fokussiert den Blick auf die kleinen Dinge, das Nebensächliche, das Vergessene, das Alltägliche im Historischen, das skurrile Detail. Das gelingt fast immer, nur der Monolog von Peter Lorenz’ Fahrer (Axel Prahl) verrutscht zum volkstümelnden, berlinernden Malocherklischee. Im vielleicht zentralen Monolog des Stücks erzählt Peter Lorenz (von Michael Prelle präzise als linkischer, nachdenklicher Mann dargestellt). Fast tonlos berichtet er von der seltsamen Nähe zwischen ihm und den Terroristen. Seine Hose war zerrissen, eine Entführerin half beim Nähen. Samstagabend durfte er im Fernsehen Heidi Kabel sehen. „Die Leute vom ‚2. Juni‘ haben auch gelacht, aber nicht so viel wie ich.“ Die Militanten ließen ihn beim Schach gewinnen und gratulierten ihm zu seinem – in Abwesenheit errungenen – Wahlsieg. Als er gegen Gefangene ausgetauscht wird, lädt er seine Entführer fast zum Gartenfest ein, um ihnen mal in Ruhe die Politik der CDU zu erklären. „Das waren Idealisten, keine Gangster“, sagt er.

Dieser Monolog ist eine rhetorische Gratwanderung, an der Grenze zum Schwank. An der Grenze, nicht jenseits davon. Denn man spürt ja – der Komik zum Trotz – Lorenz’ Angst, getötet zu werden, im Halbgesagten, Halbverschwiegenen.

Dresen hat kein Ideendrama inszeniert, in den Fokus rückt das Kleinteilige. So kommt die konkrete Erfahrung zu ihrem Recht, die hinter den zu Ikonen erstarrten Bildern unsichtbar geworden war. Und damit entgeht das Stück den Fallen, die der Stoff birgt: der Mythisierung ebenso wie der Geste des „So war es“, der Geschichtsstunde. „Zeugenstand“ will nichts beweisen, sondern erzählen.

Täter, Opfer, zufällig Beteiligte, der Politiker und die Stadtguerilla, alle sind in diesem Stück einsam, gefangen in Selbstgesprächen. Am Ende wird die Betonbühne wieder zum Kino, man sieht graues, flackerndes Bildschirmrauschen, TV nach Sendeschluss. Vorne stehen die Witwe, Peter Lorenz und sein Fahrer und summen „Macht kaputt, was euch kaputtmacht“. Ein effektsicheres, traumverlorenes Bild. Und auch diese Szene ist nicht moralisch indifferent, keine Verwechslung von Täter und Opfer. Es ist eine kleine utopische Skizze, ein Bild, das die eisernen ideologischen Fronten zum Tanzen bringt.

Das letzte Wort hat Sonja, Inge Viett, im Gefängnis. Sie zitiert Ulrike Meinhofs Sätze über die Schrecken der Isolationshaft. Das Gedächtnis verdampft, das „Gehirn schrumpelt zusammen wie eine Backpflaume“. Diesen Text spricht sie nicht zu uns, zum Publikum, sondern zu ihrem eigenen Schatten. Noch ein Bild vom Terror der Einsamkeit. Dieses Schlussplädoyer, von Steffi Kühnert mit heiligem Ernst vorgetragen, ist bittere Anklage, trotziges Bekenntnis, Abschied von vergilbten Revolutionsträumen. Und vor allem ein Resümee: „Der Krieg ist vorbei.“

Am Ende klatschte das Premierenpublikum, nicht euphorisch, aber konzentriert. Auch Christoph Stölzl, Berliner CDU-Chef und gewissermaßen ein Nachfolger von Peter Lorenz. Und auch ein Ex-RAF-Terrorist, der mehr als zwanzig Jahre im Gefängnis war, applaudiert. Wer das für Versöhnungskitsch im Theater hält, hat nichts begriffen. Es ist ein kleines Zeichen für eine späte, viel zu späte Erkenntnis: für die zivile Idee, dass keine Feindschaft ewig dauern muss.