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„Die Musik half mir aus dem Ghetto“

Vom Kampf um Anerkennung zu einer Remobilisierung des Wohlfahrtsstaates: Ein Gespräch mit dem US-Intellektuellen Richard Sennett über sein neues Buch „Respect“, das demnächst erscheinen soll, über seinen eigenen sozialen Aufstieg und die amerikanische Gleichsetzung von Armut und Schande

Interview WERNER BLOCH

taz: In Amerika spricht man gern vom Bösen: das Reich des Bösen, die Achse des Bösen … Warum spielt das Böse in der US-Außenpolitik eine so große Rolle?

Richard Sennett: Diesen Aspekt der amerikanischen Kultur können Europäer nur schwer verstehen. Schauen Sie, wir sind ein extrem religiöses Volk. Wenn wir über Macht nachdenken, dann tun wir das in denselben Kategorien, in denen wir über Religion nachdenken. Politik und Religion sind für uns enger miteinander verbunden als in Europa, der soziale Zusammenhalt ist in unserem Land schwach. Wir ziehen viel um, bei uns leben zahlreiche ethnische Gruppen, wir haben unauflösbare Abgrenzungen und Spannungen zwischen den verschiedenen Ethnien. Die Religion ist die Bindung, der soziale Zement. Diese Situation produziert jene moralistische Sprache in der Politik und der Gesellschaft, ein Relikt unserer puritanischen Gründerväter. Diese Sprache wird auch von Katholiken, von Juden und von anderen gesprochen, die sich assimiliert und der amerikanischen Diktion von Gut und Böse angepasst haben.

Angesichts dieser Lage sowie der enormen Armut in den USA: Warum hat es nie eine amerikanische Linke gegeben?

Das ergibt sich aus der Spaltung von Moral und Ethik. Der Moral geht es um gut und böse, der Ethik um reich und arm. Die Ethik lautet: Die Menschen bekommen, was sie verdienen. Bedenken Sie: Es geht in der amerikanischen Gesellschaft nicht so sehr um Individualismus, sondern um Gleichgültigkeit. Ohne die freiwilligen Hilfen der christlichen Kirchen wäre alles noch viel schlimmer. Ich habe das in meinem eigenen Leben erfahren. Die kirchlichen Gruppen tun viel, allerdings nur innerhalb bestimmter Grenzen, denn sie verfügen nicht über viel Geld.

Das Thema der Wohlfahrt und des Wohlfahrtsstaates scheint nicht gerade populär zu sein in den USA …

Ich selbst bin als ein Kind des Wohlfahrtsstaates aufgewachsen, in einem sozialen Wohnprojekt in Chicago. Wir waren die einzigen Weißen in einem ausschließlich von sehr armen Schwarzen bewohnten Ghetto – und wir waren so arm, dass unsere Hautfarbe einfach übersehen wurde. Diese Erfahrungen sind in mein neues Buch eingegangen, das im Herbst erscheinen wird. Ich habe ja bisher nie über mich selbst geschrieben. Doch jetzt möchte ich ein kleines Schreibexperiment wagen und auf meine Kindheitserfahrungen zurückgreifen. Das Buch heißt „Respect“, denn der Hauptaspekt, um den es mir geht, ist nicht materielle Benachteiligung, sondern soziale Deprivation im Wohlfahrtsstaat: der fehlende Respekt für bedürftige Menschen. In den USA gilt Armut als Schande.

Wie sind Sie aus dem Ghetto herausgekommen?

Es war die Musik, sie half mir, das Ghetto zu verlassen. Ich begann sehr früh zu musizieren. Musik hat in der schwarzen Gemeinschaft großes Prestige. Ich spielte Cello, ein großes, physisches, sexualisiertes Instrument. Ich habe also eine Kunst und eine Fingerfertigkeit entwickelt, die mir half, mich aus meiner sozialen Umgebung zu lösen. Schon als Kind hat man eine Quelle der Anerkennung, wenn man jeden Tag etwas Kreatives mit den Händen schafft. Ich habe viel Kammermusik gespielt und zahlreiche Konzerte gegeben. Das war auch meine erste Verbindung mit Europa – ich kam hierher, um Musik zu machen, ich spielte auf dem Festival von Aix-en-Provence, gab Wohltätigkeitskonzerte für die Opfer des Algerienkrieges. Ich habe im Teenageralter wunderbare Erfahrungen als Musiker in Europa gemacht. Aber ich habe mit jener Community in Chicago, in der ich aufwuchs, Kontakt gehalten.

Wo liegen die gegenwärtigen Probleme des Wohlfahrtsstaates?

Der moderne Sozialstaat will von jedem Bürger, dass dieser sich selbst erschafft, dass ihm gelingt, was Menschen wie mir gelungen ist: der Schritt in die Unabhängigkeit und die Selbstständigkeit. Der Neoliberalismus will, dass wir aufhören, bedürftig zu sein. Er will nicht Individualismus, sondern Unabhängigkeit. Was ich attackiere, ist die herkömmliche Gleichsetzung von Bedürftigkeit und Schande. Wir glauben, dass Sozialhilfe nur ein Problem der Armut ist. Ich halte das für falsch. Der Sozialstaat artikuliert Ungleichheit – es geht um Talent, Abhängigkeit, Mitleid.

Was ist Ihre Message für die Politiker?

Dies ist kein Buch für Politiker, sondern für einfache Leser. Ich untersuche die drei Säulen des Sozialstaates: Bildung, Armut und das Gesundheitswesen, etwa die Beziehungen zwischen sehr kranken Menschen und ihren Ärzten und Pflegern. Unser Erziehungssystem legt keinen Wert darauf, dass auch weniger Begabte das Anrecht auf Respekt vonseiten der überaus Intelligenten haben. Dieses Thema wird unterdrückt. Wie können Leute, die talentierter sind, mit weniger talentierten auf gleicher Ebene kommunizieren – zum Beispiel in Unternehmen?

Politiker wie Blair und Schröder dringen doch gerade auf den Rückbau des Sozialstaates.

Die Politiker haben beschlossen, dass das, was in der Wirtschaft funktioniert, auch im sozialen Bereich funktionieren soll. Das geht natürlich nicht so einfach. Andererseits hat auch der Sozialismus nie eine Idee von Wohlfahrt entwickelt, die mit dem Problem der Ungleichheit fertig wurde. Ungleichheit war ein unterdrückter Begriff, sie sollte ja verschwinden.

Jeder scheint zu glauben, dass der Wohlfahrtsstaat tot ist.

Das wäre erst der Fall, wenn wir in einer völlig nivellierten Gesellschaft ankommen würden. Dann wäre das Nirwana da: Es gäbe nur noch Unterschiede, aber keine Ungleichheit. Davon sind wir weit entfernt. In Großbritannien finden sich derzeit weite Teile der Labour Party und der Linken um soziale Themen wieder zusammen und formieren sich neu. Diskutiert wird darüber schon länger. Die öffentliche Debatte ist der Politik voraus.

Sie behaupten, Politik könne von Kultur lernen. Wie das?

Im Zusammenspiel testen Musiker ständig Wege der Kooperation aus. Es geht aber auch um Grenzen der Zusammenarbeit, also die künstlerisch notwendigen Kompromisse, um ein Ergebnis zu erzielen. Künstlerische Praxis kann uns über soziale Erfahrungen aufklären. Wir haben bisher niemals die Musik als eine erhellende Erfahrung gesehen, um etwa die Zusammenarbeitsregeln in einem Unternehmen zu begreifen oder in der Politik. Kunstsoziologie hat soziale Bedingungen beschrieben und benutzt, um Kunst zu erklären – nie umgekehrt. Wir müssen das korrigieren. Und ich möchte noch eine Reihe von Büchern darüber schreiben.

Ich war in meiner Jugend ein eifriger Adorno-Leser, aber als Musiker war ich bei ihm eher skeptisch. Denn Adorno schreibt viel über Partituren und Kompositionen, aber sehr wenig über die künstlerische Praxis, das Musizieren an sich. Er hat die ganze Diskussion des 20. Jahrhunderts über Kunst und Gesellschaft auf den falschen Weg gebracht.

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