: Die Beschädigung des Islam
Statt mit durchdachter Selbstkritik reagieren die arabischen Gesellschaften zunehmend brutaler auf erlittene Demütigungen. Eine psychologische Analyse des Nahostkonflikts
Auf den ersten Blick scheint der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern eine Auseinandersetzung zwischen zwei Völkern zu sein, die um dasselbe mythisch beladene, räumlich enge Territorium streiten. Bei genauerem Hinsehen erschließt sich dem Beobachter ein tiefer gehender Hintergrund, der von einer verhängnisvollen Instrumentalisierung des Konflikts bedient wird. Es geht längst nicht mehr nur um Land und um das Existenzrecht der beiden Völker. Es handelt sich um eine symbolische Auseinandersetzung, bei der es vor allem um die verletzte islamische Psyche geht.
Seit seiner Gründung lieferte der Staat Israel der arabischen Elite Argumente für die Begründung der eigenen Misere; Diktatoren stützten ihre Macht auf antiisraelische Emotionen. Denn seit der Kolonialisierung islamischer Territorien gab es auf der Seite der westlichen Kolonialherren kein Umdenken in der hierarchisch motivierten Begegnung mit den Unterworfenen, und Israel ist in die Fußstapfen der Kolonialmächte getreten. Doch die Araber sind nun einmal ein Volk, das die gleichen Rechte beanspruchen darf wie die Juden, nämlich das Recht auf Frieden und Selbstbestimmung. Dass diese Rechte den Menschen in der arabischen Welt von den eigenen geistigen und politischen Führern bis heute verwehrt werden, ist eine Tatsache, deren Leugnung die größte Lebenslüge der Muslime ist.
So lenkt der Nahostkonflikt von den eigentlichen Problemen ab. Davon nämlich, dass die Globalisierung die Armen der Welt noch ärmer und die Reichen noch reicher gemacht hat. Und auch davon, dass die islamische Kultur fast nirgendwo zeitgemäße Antworten auf brennende Fragen zu geben hat, die die Menschheit bewegen. Statt einer religiös und philosophisch durchdachten, ethisch und moralisch inspirierenden Kritik der eigenen Geschichte und der gesellschaftlichen Verhältnisse in den muslimischen Ländern produziert eine verwahrloste muslimische Kultur immer brutalere Reaktionen auf die erlittenen Demütigungen. Das scheint billig zu sein, denn es kostet keine geistige Anstrengung. Die Folgen aber sind katastrophal.
Eine ganze Generation wächst mit Hass und Minderwertigkeitskomplexen auf, ignorant, was die eigene Kultur angeht, und voller Verachtung gegenüber dem Anderen. Eine solche Generation kann nur Lakaien produzieren, Lakaien für Diktatoren und Demagogen. Saddam Hussein und Bin Laden sind dafür bestimmt dankbar.
Heute erscheint die islamische Kultur als ein Hort der Gewalt. Dass Religionen Gewalt motivieren können, ist nichts Neues. Aber sie können auch etwas ganz anderes. Und gerade dieser Gegenentwurf war in der Gründungsphase des Islam sein Erfolgsrezept.
Was Mohammed als Staatsmann auszeichnete, war die Fähigkeit, zwischen unterschiedlichen Interessen und Standpunkten zu vermitteln, mit Geduld und einem hohen Anspruch auf Gerechtigkeit. Aus diesem Grund hatte man ihn nach Medina geholt. Er sollte zwischen den zerstrittenen Stämmen vermitteln, was er auch mit Erfolg getan hat. Medina wurde zu einem Mikrokosmos des Zusammenlebens unterschiedlicher Gruppierungen. Die arabischen Reiche in der Frühzeit des Islam haben diesen Ansatz kopiert und auf immer größere Räume angewandt. Die Folge war eine zivilisatorische Blütezeit, in der die Künste und Wissenschaften aufleben konnten.
Die islamische Kultur müsste heute einen bedeutenden Beitrag zum Zusammenleben unterschiedlicher ethnischer und religiöser Gruppen leisten. Doch es gibt nicht einmal eine theoretische Beschäftigung mit den Herausforderungen der Globalisierung und der multikulturellen Gesellschaft. Immer stärker hat sich eine Geisteshaltung durchgesetzt, die dem Islam eben auch innewohnt: die Aufteilung der Welt in zwei Räume, die einander feindlich gegenüberstehen. Auf der einen Seite die Welt des Islam, die für Frieden und Gerechtigkeit steht, auf der anderen die Welt der Ungläubigen, die des Krieges und der Verwüstung. Dass die Welt der Ungläubigen nun seit einigen Jahrhunderten in fast allen Belangen der islamischen überlegen ist, führt zu einer lebenslang durchlittenen Schizophrenie unter den Muslimen. Statt die Ursachen für die Schwächeperiode der eigenen Kultur auch bei sich selbst zu suchen, projiziert man jegliche Schuld auf die Anderen, auf die Kolonialmächte, auf die Vereinigten Staaten von Amerika oder auch auf Israel.
Die Erfahrung der Kolonisierung war schlimm, und die Amerikaner haben nur ihre eigenen kurzfristigen Interessen vor Augen. Wer will das alles bestreiten? Noch schlimmer aber ist der Verrat an den eigenen Möglichkeiten, eine zivile und humane Gesellschaft aufzubauen. Die Konfrontation kann nur dann überwunden werden, wenn auf beiden Seiten die Antennen für Selbstkritik wieder Signale aussenden. Zurzeit bleiben sie ausgeschaltet. Der Feind sitzt nun einmal auf der anderen Seite. Dass er nur ein Abbild der eigenen, auf Selbstzerstörung programmierten Kräfte sein könnte, erscheint undenkbar.
Chomeinis Amerikabild und George W. Bushs Bild von den Schurkenstaaten sind die zwei Seiten einer Medaille. Der Teufel trägt immer die Gesichtszüge des Anderen. Statt die eigenen Versäumnisse offen zu benennen und somit einen begehbaren Grund für die gegenseitige Annäherung zu suchen, wird eine konfrontative Kriegsstrategie gewählt. Die Dämonisierung des Gegners soll eine rationale Analyse von Konfliktsituationen erst gar nicht ermöglichen. Diese Strategie kommt all jenen Kräften entgegen, die eine Schwarzweißsicht der Dinge etablieren müssen, um ihre ideologischen Positionen zu festigen.
Seit dem Beginn der zweiten Intifada ist zu beobachten, dass der radikale Protest und extremistische Handlungen wie Selbstmordattentate längst nicht mehr nur im Lager religiöser Fanatiker Zustimmung finden. Das ist ein alarmierendes Zeichen. Der religiöse Fanatismus, dessen Potenziale schon erschöpft zu sein schienen, bekommt eine neue Kraftspritze. Selbst in säkular orientierten muslimischen Ländern wie in der Türkei ist die Stimmung von einer neutraleren, die Verfehlungen beider Seiten argumentativ abwägenden Haltung zugunsten einer einseitig antiwestlichen, Israel gegenüber kritischen Position umgekippt. Das kann nun gar nicht im Interesse Israels sein. Die Türkei war und ist der einzige strategische Verbündete Israels. Auch sie muss sich endlich zu der eigenen Verantwortung in diesem unheilvollen Kräftemessen bekennen.
Chauvinistisch motivierte Machtrituale führen immer zu blutrünstigen, menschenverachtenden Positionen. Im Nahen Osten haben die Provokateure und die Extremisten Oberhand. Die Welt darf sich aber nicht zu ihren Geiseln machen lassen. Sonst entsteht ein Flächenbrand, dessen Bekämpfung die Weltpolizisten von morgen überfordern könnte. ZAFER ȘENOCAK
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