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Frischer Wind im alten Gemäuer

Zum neunten Mal findet in diesem Sommer das Festival Rohkunstbau in Groß Leuthen statt. Anders als sonst üblich dient das Wasserschloss den zwölf Stipendiaten nicht als bloße Kulisse, sondern als Ausgangspunkt für ihre einzelnen Kunstprojekte

von DIRK PILZ

Auf den ersten Blick ein verschlafenes Nest: Eine winzige Bankfiliale, Anwohner lehnen aus den Fenstern, im Mini-Supermarkt werden die Kunden persönlich begrüßt. Groß Leuthen im Unteren Spreewald weist die Landkarte als Pünktchen in der Nähe von Lübben aus – wenn überhaupt.

Das beschauliche Dorf ist der Inbegriff brandenburgischer Provinz: ein bisschen schick, ein bisschen trostlos. Aber immerhin liegt unten am Groß Leuthener See der gut besuchte Campingplatz Spreewaldtor. Ganzjährig geöffnet, mit Preisen geehrt und ökologisch korrekt ist ein Paradies für die zeltliebende Familie entstanden. Ein Camper-Idyll, das neben Mutter-Kind-Dusche, finnischer Sauna und obligatorischer Sommernachtsdisco auch das erste deutsche Camping-Museum zu bieten hat. Aber sonst?

Sonst entdeckt der Besucher beim näheren Hinsehen in Groß Leuthen ein trutziges Wasserschloss am Westufer des Sees. Im Schlosshof hohe Bäume, am Wasser eine Terrasse und über allem sirrende Stille. Ein beinahe maßgeschneidertes Idyll. Gesicherte Daten aus der Anfangszeit der Schlossanlage gibt es nicht, aber bereits um 1200 muss hier eine Burg gestanden haben. Später hat es das gelb-ocker gestrichene Gebäude auf eine standesherrliche Herrschaft gebracht. Ein gewisser Wilhelm Schenk von Landsberg soll damals das ganze Dorf, die Burg und angrenzenden Ländereien gekauft haben. Im Laufe der Jahrhunderte wurde viel umgebaut, 1914 sogar ein Schatz gefunden und zu DDR-Zeiten ein Kinderheim für schwer Erziehbare untergebracht. Der Gang der Geschichte hat deutliche Spuren hinterlassen: Heute ist das Wasserschloss Groß Leuthen ein aus verschiedenen Baustilen zusammengewürfelter Gebäudekomplex, der seine Renovierungsbedürftigkeit nicht verbergen kann. Und auch nicht verbergen will: Denn jedes Jahr erweist sich das marode Schloss für ein paar Sommerwochen als passende Museumshalle der erfolgreichsten freien Ausstellung zeitgenössischer Kunst in Brandenburg.

Seit nunmehr neun Jahren ist das Rohkunstbau-Festival (RKB) an der nördlichen Peripherie des Spreewaldes zu Hause. Die ambitionierte Ausstellung hat Groß Leuthen bekannt gemacht – obwohl die jährliche Schau keine Giacomettis oder Picassos, sondern junge, relativ unbekannte Kunst vorstellt. In diesem Jahr sind es zwölf Künstler, die in den Sparten Malerei, Installation, Plastik und Videokunst ihre Werke zeigen und auch zum Verkauf anbieten.

Anders als oft üblich dient der Ausstellungsraum allerdings nicht als bloße Kulisse, sondern als Ausgangspunkt der einzelnen Projekte. Alle Macher sind Stipendiaten des Festivals, die ihre Arbeiten auf die Räume des Schlosses direkt zuschneiden. Der Ort der Präsentation wird gleichsam ins Innere der Werke verlagert, wird damit zum präsentierten Ort. Das Wasserschloss dient als Widerstands- und Reibefläche für eine Gegenwartskunst, die sich nicht mit reinem Ästhetizismus begnügen will. Die Konzepte der zeitgenössischen Künstler treffen auf einen historisch belasteten Raum – und setzen gerade dadurch eine eigene Energie, neue Blickweisen, andere Verstehensmuster frei. Die Besucher schleichen über knarzende Dielen, sehen Putz bröckeln, öffnen schwere Türen – und finden sich im ehemaligen Ankleidezimmer einem „Rotierenden Tod im Spiegel“ gegenüber.

Der Dresdner Installationskünstler Frank Herrmann versteht die hohe Kunst des Grenzgangs: Der Tod dreht sich, wie der Raum rund ist. Die kleine Rotunde scheint sich zu verdoppeln. Ähnlich hintergründig spielen die Klebebilder und plastischen Objekte von Valery Koshlyakow mit dem Ort des Geschehens. Der Moskauer Maler re- und dekonstruiert historische Bauelemente von der Antike bis zur Gegenwart. In seiner oft an Giovanni Piranesi erinnernden Manier zitiert er gleichsam die Schlossgeschichte.

Der Rundgang wird zur Entdeckungsreise. Installationen, Gemälde und Fotografien unter Stuck und vor alten Holzverkleidungen. Hinter den ausladenden Fenstern taucht manchmal der See auf, manchmal nur der Himmel, mitunter Gestrüpp. Eine herrlich irritierende Verbindung von ungewöhnlichen Ausstellungsräumen, Objekten und Natur. Was durchaus dem diesjährigen Motto der Schau entspricht. RKB hat sich mit seiner neunten Ausgabe in die Kulturlandoffensive zum Romantikjahr im Land Brandenburg eingeklinkt und will die Wandlung dieses Epochenbegriffs zu einem Lebensgefühl in der heutigen Zeit befragen.

Wandlung, Lebensgefühl des Heute und kritisches Sicht auf die Geschichte – besser könnte RKB nicht beschrieben werden. In Groß Leuthen wird produktive Irritation geprobt. Nicht allen gezeigten Irritationsversuchen gelingt die Verunsicherung des Betrachters. Manchen der Künstler ist das Ringen mit Materialien und Techniken anzumerken. Dennoch beschränken sie sich nicht aufs bare Experimentieren. Sie suchen nach inhaltlichen Positionen im Rahmen des übergeordneten Themas. Das ist, was die Ausstellung so sympathisch macht. Keine fertige Kunstware, sondern Wegmarken, Zwischenresultate werden gezeigt.

Die konkrete Vorgabe, für einen bestimmten Raum zu arbeiten, hat allen sichtlich geholfen. Der junge Kurator Arvid Boellert nennt das „den kalkulierten Zufall“: Räume und Ausstellungsobjekte finden zueinander, in unvorhersehbarer und doch geplanter Weise. Mit Erfolg: Die Akzeptanz des Kunstunternehmens vor Ort ist erstaunlich. „Die Hälfte der Gäste kommen aus der Gegend hier“, erzählt Boellert. Nicht nur die Kunstschickeria tanzt an, sondern auch die Leute aus dem Dorf sind da. Sie kommen zum Open-Air-Kino, zu Lesungen und Theaterabenden, sie kommen mal gucken – und geraten in eine Ausstellung, in die sie sich sonst eher nicht verirren würden. Anderen Kunstofferten auf dem Lande gelingt Derartiges weniger.

Groß Leuthen ist die Ausnahme von der Regel. Auch schon, als RKB noch in einem richtigen Rohbau zu Hause war: Angefangen hat das ambitionierte Projekt 1994 in einer halb fertigen Halle. Die DDR-Oberen hatten das Dörfchen als Heimstatt der alljährlichen Arbeiterfestspiele auserkoren. Aber bevor die Feiern begannen, war die DDR schon im Strudel der Geschichte verschwunden. Das verwaiste Gelände gab damals dem Festival seinen Namen. Vor drei Jahren ist RKB ins Wasserschloss umgesiedelt und hat einen geschichtsträchtigen Ort bezogen, der jedes Jahr aufs Neue entdeckt wird. Und sich als „Mini-Documenta in Brandenburg“ herumgesprochen hat: Groß Leuthen ist doch nur auf den ersten Blick ein verschlafenes Nest.

IX. Rohkunstbau, Wasserschloss Groß Leuthen bei Lübben, vom 11. 8.–30. 8., Mo.–Fr. 16–19 Uhr, Sa. und So. 13–19 Uhr, Eintritt frei. Infotelefon: (01 75) 8 69 51 46. Anfahrt: Mit dem Zug: RE 2, RB 14 bis Lübben, Niederlausitzer Regionalbahn oder RVS bis Groß Leuthen. Mit dem Auto: A 13, Abfahrt Lübben oder Groß Köris, B 87 und B 179, www.rohkunstbau.de

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