piwik no script img

Funktionieren wollen, leiden müssen

Die Liebe, ach: Mit Tests und Trainings rücken die Frauenzeitschriften den Gefühlen zu Leibe – psychische Krisen sollen mit Selbsterzählungen kuriert werden. Kleiner Rundgang durch die seltsame Gattung der populären Psychologie-Aufsätze

Die Seele mit der Mechanik einer Klospülung erklären? Warum nicht?Was das wohl für Typen sind, die beim Lesen denken:Genau so ist es!!!

von ANDREAS MERKEL

„Eine Synchronizität in diesem Sinne wäre etwa, wenn jemand ein Problem hat und ,zufällig‘auf ein passendes Buch oder eine Person trifft, die weiterhelfen kann.“ (Brockhaus Psychologie)

Es fällt mal wieder alles zusammen. Abends ruft der Vater an und fragt, wie Japan gegen die Türkei gespielt hat, man weiß es nicht mehr („Hast du heute Vormittag nicht geguckt?“ – „Doch“). Weltmeisterschaft und Walser- Debatte, Jetlag vorm Fernseher, dazu jede Menge unerledigter Arbeit auf dem Schreibtisch. Dort stapeln sich Publikationen zum Thema Psychologie. Damit hatte man eigentlich gehofft, sich auf alle Gefühlsschwankungen in der heißen Phase des Jahres vorbereiten zu können …

Aber die Frau hat ein ebenmäßiges, schönes Gesicht und blickt einen an, als hätte sie gerade leichte Kopfschmerzen oder als würde sie sowieso schon die ganze Zeit über einen nachdenken. Links über ihr auf dem fliederfarbenen Einband, der an das Layout von Krankenkassenbroschüren erinnert, sitzt Rodins Denker. Daneben heißt es: „Fühlen, Denken und Verhalten verstehen“. Das Ganze sieht nicht leicht aus und wiegt tatsächlich 1,785 Kilogramm. Es handelt sich um die Neuauflage des „Brockhaus Psychologie“. 3.500 Stichwörter sollen hier auf 704 Seiten erklärt werden, dazu gibt es 550 Abbildungen, 120 Infokästen und 25 Sonderartikel, die sich mit Themen wie „Angst“, „Trauer“ und „Neuropsychologie“, aber auch „Mobbing“ beschäftigen. Vielleicht ist es hilfreich, sich vorzustellen, unter welchen Umständen man zu so einem Buch greifen könnte. Mit vorsichtigem Optimismus schlägt man dann also eben nicht „Depersonalisation“ („Fremdwerden der eigenen Person“), sondern einfach mal: „Liebe“ nach.

„Positive Gefühlsbindung“, liest man dort, „eine Form affektiver Zuwendung zu anderen, die in unterschiedlichen Epochen und Kulturen verschieden erlebt, aufgefasst und durch Verhaltensregeln bestimmt wurde und wird. Liebe ist mit wissenschaftlichen Mitteln schwer zu fassen; in der Psychologie wurde sie v. a. von der Psychoanalyse untersucht. Während Sigmund Freud annahm, dass Liebe zunächst der eigenen Person gilt (Narzissmus) und erst durch die sexuelle Reifung andere Menschen ,besetzt‘, ging Michael Balint von einer ,primären Liebe‘ aus, die von Anfang an auf andere Menschen gerichtet ist und auch die erste Gefühlsbindung des Säuglings …“

Und wo haben Sie aufgehört zu lesen?

Die Zweifel beginnen bereits mit dem ersten Wort der Definition. Es reicht schon, einen Blick auf die weiteren Brockhaus-Einträge zum Thema Liebe zu werfen, um sich zu fragen, was an diesen Gefühlsbindungen denn so positiv sein soll. Liebeskummer, Liebesunfähigkeit, Liebesverlust oder Liebeswahn scheinen auf die Liebe quasi zwangsläufig zu folgen.

Und dem immerhin gleich zugegebenen Zweifel, die Liebe sei wissenschaftlich schwer zu fassen, scheint man in einer beigefügten Grafik zumindest dadurch begegnen zu wollen, dass dort das schwierige Gefühl von sämtlichen themenverwandten Begriffen umstellt wird. Wer es also genau wissen will mit der Liebe, der darf auch gern noch mal nachgucken unter: „(Bindung, (Partnerschaft, (Paar, (Lebensgefährte, (Eltern-Kind-Beziehung, (Beziehung, (Abhängigkeit, (Symbiose, (Paartherapie, (Erotophobie …“

Natürlich unternimmt jedes Lexikon diese Gratwanderung zwischen eigenständig zu lesenden Begriffserklärungen und dem System einer Wissenschaft, das sich eben erst aus den Querverweisen ergibt. Allerdings verliert der Brockhaus hier den Überblick auf das Wesentliche und verschwendet sich an ein universitäres Grundgefühl. Man erinnert sich der Berge an Sekundärliteratur, die es für Referate und Seminararbeiten zu „sichten“ galt, und dem andernfalls drohenden Verdikt der „Halbbildung“ (Helmut Schmidt) – als könnte es jemals so etwas wie Vollbildung geben.

Also lässt man es erst mal sein, mit der Liebe und dem Brockhaus, und wendet sich Leichterem auf dem weiten Feld der Psychologie zu. Nämlich dem populärwissenschaftlichen Erfolg, den diese Disziplin beispielsweise in der Welt der Frauenzeitschriften genießt. Das ist zunächst sicherlich damit zu erklären, dass einem in der Psychologie ja dauernd der Sex dazwischenkommt (siehe Sigmund Freud). Während sich bei den Lesern von Männer-Magazinen wie GQ, Men’s Health oder Max jedoch der Bedarf an Psychologie wesentlich in der Vermittlung von Sex-Tipps erschöpft („Soll ich mit meiner Kollegin ins Bett gehen?“), bemühen sich Frauenzeitschriften zumindest um einen wissenschaftlicheren Tonfall im Umgang mit dem ebenso vorhandenen Thema. „Testen Sie Ihren sexuellen Intelligenz-Quotienten!“ lautet der Aufmacher bei Petra und Allegra im Juli (und lediglich die Freundin fragt verschämt: „Bin ich gut im Bett?“). Und falls der zu schlecht ausfallen sollte, dann offeriert Allegra die Alternative noch im selben Heft: „Selbstbefriedigung: Machen Sie es sich doch mal schön!“

Auch in der Brigitte gibt es massenhaft „Tests“ und „Trainings“, als müssten die Standards der empirischen Sozialforschung auf Teufel komm raus verinnerlicht werden. So bietet zum Beispiel die Brigitte auf ihrer Homepage (www.brigitte.de) unter der Rubrik „Gesellschaft und Psychologie“ ein ausführliches Trainingsprogramm an, um bei Selbstzweifeln die innere Balance wiederzufinden. Dahinter verbergen sich dann, zusammengestellt von Dipl.-Psychologin Dr. Eva Wlodarek, so rührige Ratschläge wie: „Selbstzweifel sind ein typisches Frauenleiden. Die meisten Männer haben damit kein Problem: Selbstverständlich ist er der beste Mann für diesen Job. Dass seine Freundin ihn verlassen hat, wird sie noch bitter bereuen. […] Sie sollen zwar weder die Realität verdrängen noch sich die Dinge schönreden, aber etwas mehr maskuline Leichtigkeit kann sicherlich nicht schaden.“ Das ist griffig formuliert und gut gecoacht. Klischees wie „die Männer“ werden nicht erst groß hinterfragt, sondern einfach für voll genommen. Hauptsache, es funktioniert.

Es ist dieser pragmatische Winkelzug, der letztlich auch in der wissenschaftlichen Psychologie dominiert: Warum sollte man die menschliche Seele nicht mit der Mechanik einer Klospülung erklären, solange der Wasserkasten nicht überläuft, regelmäßig gespült wird und die Herren Philosophen den Müll runterbringen. „Bis heute“, muss sogar der an dieser Stelle wieder hinzugezogene „Brockhaus Psychologie“ selbstkritisch zugeben, „erscheint die Psychologie aber als eine ,seelenlose Wissenschaft‘, die ihr Augenmerk allein auf die messbaren Teilfunktionen der Psyche legt. Die menschliche Seele systematisch zu beschreiben ist weiterhin der Philosophie vorbehalten.“

Mit dieser Mischung aus tautologischer Bauernschläue und gesundem Menschenverstand („Indem Sie energisch tun, was notwendig ist, vergehen Ihre Zweifel“, Brigitte) arbeiten dann auch selbst die seriösen Ratgebermagazine wie Psychologie Heute.

Das Heft beginnt sympathisch undogmatisch mit der Rubrik „Themen und Trends“, wo Autoren wie Gerlinde Unverzagt in kurzen Besinnungsaufsätzen Prognosen wagen wie: „Führen die Eltern eine schlechte Ehe, dann kriseln auch die späteren Partnerschaften der Kinder.“ Und wie man mit diesen Krisen umgeht, erfährt man dann in der Titelgeschichte im Juni, „Heilsames Erzählen: Entdecken Sie Ihr Leben neu!“. Da der Mensch das „erzählende Wesen“ ist, das seine Erfahrungen verarbeitet, indem es sie in Geschichten erzählt, muss man einfach nur das eigene Leben noch mal neu und richtig und von vorne aufschreiben. Eine „neue Therapierichtung“, die narrative Methode, zeigt, wie es geht. Zum Beispiel sollte man auf Kohärenz achten:

„Damit ist weniger die chronologische Ordnung gemeint als die sinnvolle Verknüpfung der Ereignisse. Eine Selbsterzählung ist keine Einkaufsliste. Die unverbundenen Ereignisse eines Zeitabschnitts müssen aufeinander bezogen und zu Sinneinheiten zusammengefasst werden, etwa nach dem Schema ,Damals wusste ich noch nicht, was ich wollte‘, oder ,Die letzten zwei Monate waren ein einziges Chaos‘.“

In der Tat. Abgesehen davon, dass sich mit derartigen poetologischen Forderungen drei Viertel der Weltliteratur aus dem Psychologie-Heute-Kanon verbannen lassen, weil sie auf zusammengefasste Sinneinheiten verzichten und immer noch nicht wissen, was sie eigentlich wollen (Kafka!), – abgesehen davon bleibt dann bloß die Frage, wer diese „Selbsterzählungen“ glauben, geschweige denn lesen soll.

Man hat sich ohnehin schon etwas ängstlich gefragt, was das wohl für Typen sind, die beim Lesen derartiger Psychologie-Literatur denken: „Ja, genau so ist es!!!“ Und vielleicht ist ja angesichts dieser Fälle das naiv-normative Pathos dieser Texte genau das Richtige. So gesehen würde sich eine im Überfluss vorhandene Fachliteratur – wo sie denn ernst genommen wird – tatsächlich auch erst ihre eigene Klientel schaffen, die es dann zu therapieren gilt. Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung und ein Teil der Lösung für das Problem, das man selbst ist.

Bevor man sich allerdings endgültig in diesem metaphysischen Circulus vitiosus aus Funktionieren und Leiden verliert, schlägt man dann doch noch mal kurz in dem fliederfarbenen Wälzer nach. Und wird gerettet!

„Wer einmal eine Zeitlang an nichts Bestimmtes denkt“, heißt es da in einem kleinen gelben Kasten zum Thema Muße, „keine Ziele verfolgt, keine Pläne schmiedet, wird erleben, welch überraschende Gedanken ihm oder ihr kommen; Erinnerungen an schöne Erlebnisse können genauso dabei sein wie plötzliche Lösungen für Alltagsprobleme, die man lange vor sich hergeschoben hat. Schon ein halbstündiger Spaziergang kann einem solche Muße verschaffen.“

Und mit diesem schönen Gedanken macht man das schwere Buch dann endgültig zu. Die Frau scheint immer noch Migräne zu haben, aber zum Glück fällt alles wieder auseinander.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen