Politik zwischen Hartz und Pisa

„Die Leute überbewerten den Bundestag“, findet Edmund Stoiber. Lieber beantwortet er die Regierungserklärung des Kanzlers aus einem Berliner Hotel

aus Berlin ULRIKE HERRMANN

Kompetenz-Kanzlerkandidat Edmund Stoiber sagte gestern einen Satz, der nicht nur durch eigenwilliges Deutsch auffiel: „Die Leute überbewerten den Bundestag.“ Also blieb er der Parlamentsdebatte einfach fern, antwortete nicht auf die Regierungserklärung des Kanzlers zum Thema Wirtschaft und Arbeitsmarkt. Wozu hat man denn den eifrigen Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz, wenn nicht als Double am Rednerpult. Der verbale Gegenangriff von SPD und Grünen war zu erwarten: Stoiber müsse sich entschuldigen! Und ansonsten kneife er wohl, habe Angst vor Schröder, fürchte das Duell. Das wiederum konnte die Union nicht auf sich sitzen lassen. Es kam zu Tumulten.

Aber falls Stoiber das Duell je gefürchtet haben sollte, dann darf er sich beruhigen. Er sah gestern nicht schlechter aus als Schröder – sondern genauso schlecht.

Das Duell der Kandidaten, angeblich ausgefallen, fand nämlich doch noch statt. Oder um es im Stoiber-Deutsch zu sagen: Die Leute unterbewerten das Hotel Maritim an der Berliner Friedrichstraße. Im Medienzeitalter ist alles eine Bühne. Und dort, vor 800 Anhängern der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (siehe Kasten), breitete Stoiber seine Zukunftsvisionen aus.

Die Zukunft liegt in der Vergangenheit. Aber das eint ihn mit dem Kanzler. Wer sich je gefragt hat, wie wohl die zwei Fernsehduelle kurz vor der Bundestagswahl verlaufen könnten, hat seit gestern eine erste Antwort: Es ist eine Schlacht der Zahlen zu erwarten.

Etwa beim Thema Steuern: In Schröders Bilanz sinken Eingangs- und Spitzensteuersatz bis zum Jahr 2005 um jeweils mehr als zehn Prozentpunkte. Stoiber hingegen macht eine Mehrbelastung von 29 Milliarden Euro aus.

Oder beim Thema Exporte: In Schröders Regierungserklärung konnte Deutschland seine „Marktposition“ im Ausland halten, bei Stoiber hingegen nahm der deutsche Anteil am Welthandel auf 9,6 Prozent ab.

Immerhin sind sich die Kontrahenten einig, was im Wahlkampf so oft wie möglich erwähnt werden muss. Es sind die Namen von zwei Studien, sie heißen Hartz und Pisa. Wohlgemerkt: Die Namen sind wichtig, sie gilt es als Textbaustein stets zu wiederholen, nicht die Studien. Denn von der Hartz-Kommission gibt es bisher sowieso nur lose Vorschläge.

Und der Pisa-Prozess scheint nicht eine Studie, sondern mindestens zwei hervorgebracht zu haben. Schröder hat einen Text gelesen, in dem am Ende die Ganztagsschule steht. Stoiber zitiert ein Werk, das auf Eliteförderung setzt.

Wie immer das Duell zwischen Schröder und Stoiber am 22. September ausgeht: Es wird sich nicht inhaltlich, sondern semantisch entscheiden. Und es gewinnt, wer nicht verliert, wer aus der Rhetorik der Defensive herauskommt. Um in der neuesten Diktion von Stoiber zu bleiben, der seit dem WM-Finale gern den Fußballvergleich bemüht: Momentan steht es 1:1.

Das Schröder-Team schoss mit dem Angriff Hartz ein Tor, die Verteidungslinie der Union ist immer noch verwirrt. So bemühte sich Hessens Ministerpräsident Roland Koch in den letzten Tagen, sein „Offensivgesetz“ nach dem umstrittenen Vorbild des US-Bundesstaats Wisconsin zur „Nagelprobe“ für die SPD hochzustilisieren. Aber was ist das für eine Offensive, wenn der eigene Kanzlerkandidat Stoiber vergisst, sie in seiner Rede hervorzuheben – obwohl der Bundestag zeitgleich über die hessische Gesetzesinitiative abstimmen wollte? Auch Stoiber scheint nicht so recht an die Idee zu glauben, Sozialhilfeempfänger zur Arbeit zwangszurekrutieren.

Dafür hat sich die SPD mit Pisa ein Tor eingefangen. Wenn Schröder in einer Regierungserklärung herausheben muss, dass doch wenigstens Schleswig-Holstein so gut abgeschnitten habe wie Bayern – dann ist das genau die Semantik der Defensive, die es zu vermeiden gilt. Ungesagt, und doch gesagt, wird Bayern als absoluter Erfolgsmaßstab anerkannt, wird zugegeben, dass die meisten SPD-Länder sich nicht mit dem stolzen Freistaat vergleichen können.

Stoiber und Schröder duellierten sich mit fertigen Manuskripten. Nur selten wichen sie vom Text ab. Doch ganz am Rande zeigte Stoiber, wie es ihm wirklich geht. „In der Bevölkerung gibt es zwei Unwörter: Stillstand und Reform.“ Da könne man nichts durchsetzen. Dann ist es auch egal, wer die Wahl gewinnt. Die Politikverdrossenheit hat die Politiker erreicht.