piwik no script img

Heiligkeit oder Tod

Gabriele Scherer bezieht den literarischen und den medizinischen Diskurs der Goethezeit aufeinander und vertut eine große Chance: die diskurstheoretische Studie „Bis daß der Tod euch scheidet … “

von JÖRN AHRENS

Dass die Liebe ein seltsames Spiel ist, hat nicht erst der deutsche Schlager herausgefunden. Die Literatur hat das natürlich schon lange gewusst – vom antiken Drama bis in die Gegenwart. Ein Schelm, wer glaubt, dass es da nur um Liebe geht und nicht auch um soziokulturelle Fragen. Der Kampf der Geschlechter lagert sich vorzüglich in dieser Literatur ab, somit auch Strategien, Klischees und Vorstellungsweisen von dessen Auftreten in der Gesellschaft.

Es ist nahe liegend, dass dies besonders auf die Periode der Literatur um 1800 zutrifft, als das Bürgertum sich gegen den Adel zu behaupten begann und so etwas wie seine bürgerliche Gesellschaft etablierte. Kein Wunder, dass dieser Zeitraum in der feministischen Literaturwissenschaft sehr beliebt ist. Die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern werden in einer bis heute nachhaltigen Weise neu definiert. Der programmatische Charakter der zeitgenössischen Romane in dieser Hinsicht ist häufig hervorgehoben worden.

Natürlich steht das Geschlechterverhältnis nicht isoliert da. Es ist Teil einer sich wechselseitig durchdringenden Fülle von Ereignissen und kulturellen Bewegungen. Seit die Literaturwissenschaft mit einer durch Foucault inspirierten Diskursanalyse arbeitet, verlässt sie daher des Öfteren ihr genuines Feld, um es in Beziehung zu anderen Phänomenen zu setzen, deren Spuren, Tiefenwirkungen, Überschneidungen paradigmatisch in den literarischen Erzeugnissen wiedergefunden werden können. Diese Absicht verfolgt auch Gabriele Scherer, wenn sie zeigen will, wie sehr die Romane von Spieß, Goethe, Jean Paul und anderen von den medizinischen Theorien über das Verhältnis von Körper und Seele gezehrt haben und wie sie diese Theorien in eine Programmatik der Geschlechterbeziehungen übersetzten.

Die Verschränkung aus medizinhistorischem Material und Literaturanalyse könnte ungemein spannend sein. Leider verschenkt Scherer ihr Thema, wenn auch auf paradigmatische Weise. Die Medizintheorie handelt sie rein überblicksmäßig ab. Es folgen elf Literaturbeispiele, die sich weitgehend mit einer Nacherzählung des Inhalts begnügen und mit einem Absätzchen Analyse abschließen. Logisch, dass das entweder phrasenhaft oder dünn bleibt. In der Regel handelt es sich um die nicht allzu neue Erkenntnis, dass Weiblichkeit in der Literatur pathologisiert wird. Nur dass dies auch anerkannten medizinischen Mustern folgt, ist einigermaßen originell. Die Frauen, zeigt Scherer, müssen ihr Begehren oft genug mit dem Tod oder mit der Heiligkeit (oder mit beidem) bezahlen, während die Männer andere Dinge tun. Dies sei eingebettet in die Genese des modernen, bürgerlichen Subjekts und einer kulturell dominierten, polarisierten Geschlechterordnung, welche sich durch eindeutige Symbolsetzungen ausweise. „Menschliche Seinsmöglichkeiten“ seien auf diese Weise ungeheuer limitiert, Frauen in ihren Möglichkeiten als Subjekt radikal beschnitten.

Das sind, mit Verlaub, alte Hüte. An der Schnittstelle zwischen Literatur und Wissenschaft, in einer Periode, da Medizin und Biologie sich gerade etablierten, hat Scherer eine große Chance vertan. Am schönsten an dem Buch sind die Kapitelüberschriften – jede ein Versprechen, mit dem man als Leser enttäuscht wird wie die liebenden Frauen in Scherers Romanen – und die Lichtenberg-Motti, die sie zu den Kapiteln herausgesucht und groß annonciert hat. Aber auch aus ihnen folgt weiter nichts, auch sie werden als Interpretationsmaterial nicht genutzt. Eine tragische Fügung das alles.

Gabriele Scherer: „Bis daß der Tod euch scheidet …“ Aisthesis Verlag, Bielefeld 2002, 247 Seiten, 40 €

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen