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Star nicht nur im Stahlschwein

Bei den Internationalen Deutschen Meisterschaften der Behinderten im Jahn-Sportpark vergrößert eine Ausnahmeathletin ihre Rekordsammlung: Die Berlinerin Marianne Buggenhagen wirft neue Speer-Höchstweite – unter Ausschluss der Öffentlichkeit

von MARKUS VÖLKER

Sie wechselt vom Rollstuhl in den Wurfstuhl. „Auf das Stahlschwein“, sagt Marianne Buggenhagen. Das Stahlschwein ist am Boden festgezurrt, damit nichts wackelt, wenn sie den Speer schleudert. Sie sitzt dort wie auf einem Hochstand und überschaut das Grün des Jahn-Sportparks, wo sonst der Prenzlauer Berg die Schlacken der letzten Nacht herausschwitzt und der FC Bundestag den Ball quält. „Den großen Zuschaueransturm konnten wir gerade noch verhindern“, sagt Buggenhagen und blickt auf das Häuflein Fans, das nur wegen ihr da ist, geistig Behinderte, für die sie die Patenschaft übernommen hat. Drüben, im großen Stadion, ist ein wenig mehr los. Dort tanzen gerade die Cheerleader von Berlin Thunder, der Höhepunkt des Unterhaltungsprogramms.

Ihre Fans klatschen artig, als der Speer viel weiter fliegt als bei den Konkurrentinnen. Es sieht spielerisch leicht aus. Bei den ersten Versuchen stakt die Stahlspitze bei 17 Metern in den Boden. Im fünften Versuch segelt der Speer über 20 Meter hinaus. Buggenhagen jubelt. Ihre Fans schauen sich verdattert an, dann jubeln sie auch. Der Weltrekord stand bei den Rollstuhlfahrerinnen ihrer Schadensklasse bei 19,58 Meter. Er wurde von Marianne Buggenhagen gehalten. Seit Samstagnachmittag steht die Marke bei 20,74 Meter.

„Ich habe noch nie so weit geworfen“, sagt sie danach. Sie redet nicht vom Durchbrechen einer Schallmauer, vom Überschreiten einer Grenze, vom Gipfel ihrer Karriere. Dafür hat sie schon zu viele Rekorde gebrochen. Sie hält die Bestmarken im Diskuswurf, Kugelstoßen und im Fünfkampf. Wenn ihr die Leichtathletik nicht mehr reichte, spielte sie Basketball und wurde Vizeeuropameisterin. Buggenhagen ist die deutsche Behindertensportlerin. 49 Jahre alt. Blonder Bürstenschnitt. Kräftige Statur. Auf der Höhe ihrer Leistungsfähigkeit. Sie ist der Star der Internationalen Deutschen Meisterschaften, an denen 19 Nationen und eine Vielzahl Paralympics-Sieger teilnehmen, ein Star, der sich nicht in den Blicken der Anhänger spiegelt, sondern meist nur in den Goldmedaillen, die sie bergeweise gewonnen hat.

Über 500 Athleten – Zwerge, Beinamputierte und Blinde – nutzen das Sportfest, um ihre Form für die WM im französischen Lille zu testen. In zwei Wochen steht die Weltmeisterschaft an. Viele sind aus dem Trainingslager im nahe gelegenen Kienbaum gekommen, Australier, Esten und Tunesier. „Das ist schließlich kein Wald- und Wiesensportfest“, sagt Buggenhagen, obwohl auf dem Nebenplatz mit seiner beschaulichen Ruhe genau so ausschaut. Ein paar Teilnehmer halten sogar ein Mittagsschläfchen.

Der Berliner Behindertenverband hat das Meeting zu seinem 50-jährigen Bestehen organisiert. Das Ganze kostet 80.000 Euro. Die Stadt und ein paar Sponsoren haben Geld gegeben. Nicht viel. „Das hier ist vergleichbar mit den German Open im Tennis“, sagt Thomas Hartl dennoch. Er ist der Pressesprecher der Veranstaltung. Das mit den German Open ist gelogen. Es gibt keine VIPs, keine Prosecco-Stände und Preisgelder schon gar nicht. Dafür bekommen die Behindertensportler seit jeher die Skepsis der Normalen gratis. „Müssen die denn auch noch Leistungssport betreiben und sich vollends kaputt machen“, lautet so ein Vorbehalt. „Wir werden einfach nicht über unsere Leistung wahrgenommen, sondern nur über den Rollstuhl“, sagt Buggenhagen. Sie bekommt 133 Euro von der Deutschen Sport-Hilfe. „Dafür kann ich zweimal tanken.“

Sponsoren hat sie nicht. Neulich hat sie 15 Firmen angeschrieben: Thai Ginseng, Vita Buerlecithin und Doppelherz zum Beispiel, „weil ich ja schon ein paar Tage über 20 bin“. Fünf haben nicht geantwortet. Der Rest schickte Absagen. „Aber das ist nicht so schlimm.“ Buggenhagen, die auf einer neurologischen Station als Reha-Trainerin arbeitet, strahlt keinerlei Zeichen von Verbitterung aus, obgleich ihre Geschichte dazu Anlass böte. In der DDR wurde ihre Gangstörung nach einem Bandscheibenvorfall falsch diagnostiziert. Die Schädigung des Rückenmarks zwang sie 1977 in den Rollstuhl. „Das war wie eine Befreiung für mich“, erinnert sie sich, „damals fing mein zweites, bewusstes Leben an.“ Ein Leben im Sport, dass aber vor der Wende an Grenzen stieß. Die DDR ließ Behindertensportler nicht zu internationalen Wettkämpfen reisen. Buggenhagen holte nach dem Mauerfall nach, was ihr die Sportfunktionäre zuvor vorenthalten hatten. Sie wurde sogar ins Weiße Haus geladen.

Es werden neue Buggenhagen'sche Weltrekorde dazukommen. „Ich will genauso viele Wettkampfjahre erreichen wie Heike Drechsler“, sagt sie. Drechsler, die Weitspringerin hat ihr ein halbes Dutzend voraus. Mit 55 könnte Marianne Buggenhagen ein neues Gesuch bei Doppelherz stellen.

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