: Wenn es für den Spätkauf zu spät ist
Mit Dirk Laßners Gemischtwarenladen und Monika Langes Oderkahn verschwindet an der Oderberger Ecke Kastanienallee ein Stück Prenzlauer Berg. Vielleicht wird es ja bald als Retro wiedererfunden. Legenden muss man schließlich vermarkten
von UWE RADA
Es ist Legende. Im „Oderkahn“ konnte es passieren, dass man die paar Stufen hinter der Kneipentür eher unfreiwillig nach oben stolperte, nur um hinterher von Monika Lange, der resoluten Wirtin, wieder nach unten befördert zu werden. „Betrunkene haben hier keinen Zutritt“, hieß es dann für gewöhnlich. Das war vor der Wende, als im Oderkahn – nicht immer zur Freude seiner Pächter – die Langhaarigen ihr Bier tranken, im Hinterzimmer ihre Köpfe zusammensteckten und aus der Straße in unmittelbarer Nachbarschaft zur Mauer eine Oase der kleinen Nischen und Freiräume machten.
Heute ist die Oderberger keine Oase mehr, sondern ein Trampelpfad für urbane Trendsetter, in dessen Verlauf jede Nische schon hundertfach ausgetreten wurde. Das Inventar des Oderkahns, die steile Treppe samt Monika Lange, gibt es dagegen immer noch. Allerdings nicht mehr allzu lange. Fawad Ghouzi, der deutschindische Besitzer des gegenüber liegenden Restaurants Naan, hat das Haus mit dem Oderkahn gekauft und will die seit 1921 der Familie Lange gehörende Kneipe raushaben. Ghouzis Begründung: „Es würde der Straße doch nur nutzen, wenn sich hier Neues entwickeln kann.“
Was ist alt und was ist neu? Vor kurzem erst hat die Stadtzeitung Scheinschlag „die letzten Kneipen“ in Prenzlauer Berg entdeckt und mit ihnen natürlich den Oderkahn. „In der hübsch mit allerlei nautischen Requisiten dekorierten Kneipe scheint die Zeit stehen geblieben zu sein“, wurde da geheimgetippt, doch ohne Erfolg. Das listige Unterfangen, das alte Inventar in die neue Zeit zu retten, klappt wohl nur, wenn vom Inventar nur die Location bleibt, nicht aber das Personal. So ist das eben mit Retro, ob nun „Ost“ oder „Achtzigerjahre“ in Kreuzberg: Mit Wirtinnen wie Monika Lange lassen sich keine Cocktails verkaufen, sondern nur Wernesgrüner.
Wernesgrüner hat auch Dirk Laßner verkauft, nicht in der Oderberger, sondern einmal um die Ecke, in der Kastanienallee 13. Obwohl Nachwendegründung, war sein Spätkauf wie der Oderkahn schon Legende, und manchmal, wenn die Ureinwohner des Kiezes Geburtstag feierten, ließ sich Dirk auch mal als Tunte verkleidet ans Mikrofon bitten. Nun freilich muss er sich einen neuen Job suchen. Achtzig Prozent Mieterhöhung sind selbst für 50 Quadratmeter Bier, Käse und selbst gemachte Buletten zu viel. Der Prenzlauer Berg frisst seine Kinder.
Vielleicht bereitet er sich aber auch nur auf die nächste Retro vor. Nachdem die Oderberger längst kollwitzplatzisiert und die Kastanienallee als Ethnofood-Meile globalisiert ist, schlummert beim wendigen Publikum bestimmt schon ein neues Label heran. Genius Loci statt Location, Authentitzität statt Uniformität. Wie wäre es, Herr Ghouzi, wenn Sie den Oderkahn einmotten würden und als Museumskneipe mit eingebautem Clubkeller weiterführten? Und aus dem Spätkauf könnte man eine Galerie machen, „Postsozialistische Alltagskultur“ oder so.
Überhaupt, was für eine Marktlücke! Schräg gegenüber ließe sich ja Trümmerkuttes Kneipe originalgetreu wiederaufbauen. Das ganze DDR-Schiebermilieu der Fünfziger- und Sechzigerjahre würde der Oderberger und der Kastanienallee sicher gut zu Gesicht stehen. Legenden muss man schließlich vermarkten.
Nur mit einer neuen Retromauer am Mauerpark wird’s wohl vorerst nichts werden. Die urbane Karawane braucht eben auch in Prenzlauer Berg mal ihre Ruhe. Und zum Sonnenuntergang kann man sich sein Bier ja auch aus dem Naan holen.
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