normalzeit: HELMUT HÖGE über Guerillamarketing
Baltisches Event-Hopping
Es gibt genau so viele Bauern wie Autobauer in der BRD – 600.000. Früher wussten sie schon Jahre im Voraus, wie viel sie anbauen bzw. bauen würden. Im Westen mussten die Autokäufer zum Beispiel zwei Jahre und im Osten zwanzig Jahre warten. Seit der Wende herrscht nun auch in diesen Branchen Marktgemetzel – das heißt, man muss sich um den Absatz kümmern!
Neulich unterschied Ekaterina Believa an dieser Stelle die Vorkaminer- von der Nachkaminerzeit. Das muss auch dem VW-Konzern eingeleuchtet haben, denn prompt finanzierte daraufhin die estländische VW-Niederlassung eine Übersetzung des Buches „Militärmusik“ von Wladimir Kaminer ins Estnische, wo es nun „Marschimusik“ heißt. Auch wir setzten uns – unter der kundigen Führung des Goethe-Instituts-Leiters – sofort in Marsch, und zwar in die Talliner VW-Zentrale „Sacksa“, was auf Estnisch „Sachsen“ bedeutet – und für die Deutschen steht. Dort wurde das Kaminer-Buch der Presse präsentiert – und zwar vom fahrenden Auto aus: einem „New Beetle“. Olga Kaminer fuhr ihn in die große, moderne Verkaufshalle, wobei sie Glastüren und Topfpalmen umkurven musste. Wladimir saß neben ihr und hatte das Fenster heruntergekurbelt. Er lächelte den Umstehenden zu und winkte am Schluss. Derweil wurde ein Buffet aufgebaut, und ein langhaariger Schauspieler ging noch einmal die Vorlespassagen aus „Marschimusik“ durch.
Dann hielt der VW-Chef eine kurze Rede, in der er sowohl Wladimirs Buch als auch Olgas Fahrweise lobte. Anschließend klärte der Chef des Goethe-Instituts die Anwesenden über den Inhalt des Buchs auf, und der Kulturattaché der deutschen Botschaft verteilte Visitenkarten.
Während der Lesung trank man – lässig an die Informationstheke gelehnt – Sekt und blätterte im Buch. Wenn man das Cover schräg hielt, sah man neben einem jungen Mann, der trank, ein schwarzes VW-Zeichen. Der Chef des Goethe-Instituts sprach lettisch, so dass wir nicht mitbekamen, ob er auch die VW-Verkaufsstelle „Sacksa“ lobend erwähnte, wo er unlängst selbst ein Auto gekauft hatte – einen VW-Familienvan, der in Estland 15.000 Euro billiger ist als in Deutschland. Was damit erklärt wird, dass es „Preise zum Anfüttern“ seien – bei gelungener Einführung der Marke würden sich die Preise angleichen, vollends dann mit Estlands EU-Beitritt, wobei man diese Verteuerung dann – wie es derzeit in Deutschland geschieht – als eine bloß „gefühlte Inflation“ bezeichnen würde: Aufs Ganze – der Märkte – gesehen, würden sich Preissteigerungen und -nachlässe jedoch aufheben. Mir persönlich gefiel auf dem VW-Event vor allem die Deutschlehrerin Mai-Liis vom Gymnasium Rocca al Mare, die gerade mit ihren Schülern an einem Theaterstück arbeitet und mir ihre Internetadresse gab. Von Wladimirs lettischem Verleger nahm sie mit Interesse zur Kenntnis, dass es noch zu wenige junge Autoren dortzulande gebe und dass es an lettischen Geschichtsbetrachtungen fehle.
In der Tat stieß ich später bei all meinen Fragen nach den Gräueltaten der deutschen Freikorps im Baltikum nach 1918 auf Unverständnis. Schon allein das Wort „Freikorps“, aus dem dann SA und SS hervorgegangen waren, schien dort unbekannt zu sein. Hierzulande gibt es dagegen jede Menge Erinnerungsliteratur über die „Baltikumkämpfer“ – bis in Theweleits „Männerphantasien“ rein. Aber vielleicht, so mutmaßte ich, haben auch diese reaktionären „Abenteurer“ mal wieder maßlos übertrieben – damals, als ihre Auflagen Millionenhöhe erreichten. In Wirklichkeit sind sie vielleicht nie bis nach Tallinn gekommen?!
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