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Das Provence-Gefühl

Die Provence ist nicht nur eine Landschaft, sie ist ein Lebensgefühl: Farben, Geschmäcker, Düfte. Wer hier wandert, bekommt von allem etwas

von ULRIKE FOKKEN

Weiß leuchten die Felsen in der Sonne. Sie stürzen steil und fast zackenlos in die Schlucht des Verdon hinab. Der Fluss hat hier den Grand Canyon du Verdon geformt und wenige Kilometer weiter die Basses Gorges du Verdon. Am Westufer der kleineren, aber nicht weniger spektakulären Gorges schlängelt sich ein schmaler Wanderpfad an dem grünen Fluss entlang, dessen Farbe ihm den Namen gab. Manchmal windet er sich herab an das Ufer und das Gletscherbonbonwasser lädt die Wanderer ein, sich bei einem Bad von der seichten Strömung durch die Schlucht treiben zu lassen. Danach geht es weiter, eine Steintreppe hoch, unter Felsvorsprüngen hindurch, über Eisenleitern und durch ein schattiges Tal bis hinauf auf die Felsen, wo sich die ganze Pracht der Provence vor den Augen ausbreitet.

Die Provence ist ein Lebensgefühl, ein Zeitvertreib, eine Passion. Wer aus Mitteleuropa in den Süden Frankreichs fährt, will dort nicht wandern. Der Provence-Reisende möchte auch mal so leben, wie die Franzosen klugerweise immer leben. Oder wie die meisten Franzosen am liebsten auch immer leben würden, wenn sie denn in der Provence lebten. Im Schatten der Platanen sitzen, dann und wann an einem Glas Pastis nippen, schon am Mittag ohne schlechtes Gewissen Rosé trinken, Knoblauchsuppe, danach vielleicht eine Daube Provençale und hinterher von Bakterien und Schimmelpilzen zu amorphen Häufchen geformten Ziegenkäse essen. Die Reisenden träumen davon, in den kühlen Steinhäusern mit den pastellblauen Fensterläden zu wohnen, die unendliche Helligkeit des Südens und seine Farben malen zu können und die Zeit mit Müßiggang auszufüllen.

Die Besucher aus Paris, den USA, aus Japan und aus dem Norden Europas möchten auch so schick und wichtig und extra sein wie die schicken und wichtigen Extramenschen aus diesen Ländern, die seit einem halben Jahrhundert die Dörfer und Städte bevölkern. Sie haben zwar die verlassenen Dörfer restauriert und vor dem völligen Verfall bewahrt, aber die Orte auch nach ihrem Lebensstil geprägt. In manch einem kleinen Dorf gibt es mehr Immobilienagenturen als Bäckereien, in der ehemaligen Metzgerei verkauft eine Dame aus Paris exquisite Küchenutensilien aus Edelstahl und Herde ab 3.000 Euro aufwärts, nebenan können sich die neuen Landbewohner mit Stoffen, Karaffen, Olivenholzschalen und den anderen unerlässlichen Accessoires für den Landhausstil eindecken.

Die Provence ist ein Zeitvertreib. Das ist schön. Denn die Bewohner und die meisten Reisenden geben sich dem provenzalischen Lebensgefühl hin und haben deshalb keine Zeit, die außergewöhnliche Landschaft zu durchwandern. Dabei ist das Netz der Wanderwege in der Provence – wie in ganz Frankreich – dicht und auf den berühmten weißrot markierten GR, den Sentiers de Grandes Randonnée, kann der Wanderer den ganzen Süden abseits von Straßen durchlaufen. Die Wege der bis zu 410 Kilometer langen GR-Strecken sind dabei ebenso gut ausgeschildert wie die kleineren PR, die Petite Randonnée in Gelbrot. Selbst in den entlegensten Regionen und noch kurz vorm Unterholz findet der Wanderer die farbigen waagerechten Balken, die die guten Wege markieren. Und der Provence-Wanderer hat sie fast den ganzen Tag für sich.

So sind auch die zahlreichen Gîtes d’Étappe am Abend nicht überfüllt. Diese französische Variante der Wanderhütte vermittelt dann nach der Ruhe und Abgeschiedenheit in den Hügeln der Provence wieder dieses Lebensgefühl und diese Leichtigkeit des Südens. Denn so ein Schlafsaal kann durchaus in einem alten Landgut untergebracht sein, in dessen anderen Gemächern die Gäste ein Vielfaches des bescheidenen Preises für das Stockbett der Wanderer zahlen. Und gekocht wird in der Provence auf dem Lande sowieso am besten.

Très provençale ist die Provence im Lubéron. Zwischen Vaucluse im Norden und der Durance im Süden erhebt sich der Bergzug des Lubéron. In den Tälern und an den Hängen im Norden und Süden liegen Dörfer mit klingenden Namen wie Bonnieux, Lacoste und Cucuron, deren Bewohner in den Ebenen und auf den Terrassen der Hügel dankenswerterweise hauptsächlich Wein anbauen. Die restlichen Flächen nutzen sie für Lavendel und Kirschbäume, deren dunkelrote Früchte auf dem Weg von Bonnieux zur Abtei von St. Symphorien verführerisch über den Pfad hängen. Zwischen den Terrassen läuft ein Hohlweg, von Stein- und Kermeseichen gesäumt, die dem Pfad den ganzen Tag Schatten spenden.

Kaum liegen die einzelnen Villen von Bonnieux und die Gehöfte hinter dem Wanderer, eröffnet sich von der Hügelkuppe der Blick auf eines der schmalen Täler, die der Aiguebrun in den Lubéron gewaschen hat. Die hellgrauen Klippen fallen steil zu dem klaren Fluss ab, und der jahrhundertealte Pfad windet sich durch mit Eichen, Ginster und Wacholder bewachsene Felsspalten hinunter zur Abtei, deren frei stehender Glockenturm schon von weitem den Weg weist. So lieblich die Landschaft an den Rändern des Lubéron ist, so sehr erstaunen die wilden und rauen Täler inmitten der Bergkette. Und da das Gebiet seit 1977 als regionaler Naturpark ausgewiesen ist, greift der Mensch heutzutage kaum noch in die Natur ein. Falken nisten ungestört in den Felsen, Lerchen singen, der Kuckuck ruft, nachts trällern Nachtigallen in der unglaublichen Stille der Berge. Die Luft ist erfüllt von den Kräuterdüften der Provence. Rosmarin, Thymian und Minze wachsen in teilweise kniehohen Büschen am Wegesrand und bereichern die mitgeschleppte Brotzeit.

Obwohl die Pfade durch den Lubéron fast alle schattig sind, ist wandern in der Provence eine schweißtreibende Freude. Aber da kreuzt zum Glück in regelmäßigen Abständen immer wieder der Aiguebrun die Wege. Er windet sich durch die Berge, fällt mal in Kaskaden die Felsstufen herab, sammelt sich in Becken, fließt dünnspurig weiter und verbreitert sich in etlichen im Wald gelegenen Kuhlen. Und da Wanderer die Wege für sich haben, sind sie auch beim Bad in dem eiskalten klaren Wasser ganz für sich allein.

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