: Hoffnung auf Instant-Lösungen
Nur die Sachsen scheinen berechenbar in ihrer CDU-Wählerei, was leicht damit zu erklären ist, dass das die einzige Region im Osten ohne ARD-Empfang war: Die Wahlprognostiker kommen ins Schwitzen, sobald sie mit dem Osten zu tun haben
von DAN RICHTER
7. Mai 1989, 11.30 Uhr. Dass ich mit 20 Jahren zum letzten Mal in meinem Leben die Chance haben würde, den Kandidaten der Nationalen Front meine Stimme zu geben, wusste ich zu diesem Zeitpunkt nicht. In dem mit Fahnen geschmückten Klassenzimmer prüfte ein bebrillter Opa meinen Personalausweis, gab mir den Wahlzettel und schickte mich einen halben Meter weiter zur Wahlurnendame. „Bitte falten und hier rein.“ – „Das ist alles?“ – „Ja.“ Ich faltete also und warf ein, und wenn ich heute wirklich ehrlich bin, muss ich mir eingestehen, dass ein diffuser Dank gegenüber den Kommunalbehörden, endlich eine Wohnung bekommen zu haben, ohne verheiratet zu sein, dabei eine erhebliche Rolle spielte. In der Schmuddelecke, die wahrscheinlich sonst für vorlaute Pioniere vorbehalten war, stand das Pult, hinter dem man den Wahlzettel hätte vorbereiten können, schließlich waren die Wahlen in der DDR geheim. „Vorbereiten“ konnte natürlich nur heißen, einen der Namen durchzustreichen. Und jedem musste klar sein, dass der Brillenopa sich das notieren würde: „Frau Mörhart bereitet Wahlzettel vor – 60 Sekunden“. So lange brauchte man schon, denn eine Stimme zählte erst dann als Gegenstimme, wenn auch wirklich alle 30 Kandidaten einzeln durchgestrichen worden waren. Bei den Auszählungen wurde dann diskutiert: „Ist der Name hier auch durchgestrichen, Genossin Erika?“ – „Nein, der ist doch eindeutig unterstrichen!“ – 7. Mai 1989, 23.56 Uhr. Jugendradio DT 64, Nachrichten: „Insgesamt haben die Wahlen das Bekenntnis zu den Zielen des gemeinsamen Wahlprogramms, für das weitere Gedeihen der Städte und Gemeinden, für einen starken Sozialismus und einen sicheren Frieden widergespiegelt.“
98,85 Prozent der Wahlbeteiligten hatten also nach offizieller Zählweise so wie ich durch einfaches Zettelknicken ausgedrückt, dass sie keinen Krieg wollen und das Vergammeln der Städte und Dörfer nicht in Ordnung finden. Ein paar Oppositionelle zweifelten später das Wahlergebnis an, denn in Wirklichkeit waren es nur schlappe 94 Prozent, die für das weitere Gedeihen der Städte und Gemeinden waren. Die restlichen 6 Prozent saßen wahrscheinlich schon auf gepackten Koffern, und das Wohlergehen von Dresden, Neubrandenburg oder Zschkopau ging ihnen am Arsch vorbei. Biste nicht für uns, dann biste gegen uns. Die Bonner DDR-Astrologen hatten einen leichten Job, sie glaubten, ihre Ossi-Tierchen zu kennen. Doch im Herbst ging dann alles sehr schnell – wäre im November 89 gewählt worden, hätte das Neue Forum 30 Prozent der Stimmen bekommen und die CDU hätte ihren Weg ins politische Nirvana antreten können. Zum Glück für die Blockflötenpartei stand es jedoch für den Kanzler im Nachbarland BRD gerade gar nicht gut. Wie ein Messias erschien er den Ostlern, die sich schon allein durch seine physische Präsenz elend und ausgemergelt fühlen mussten. Also schickten sie die Revolutionäre in die Wüste, die Mohren hatten ihre Schuldigkeit getan. Die Nörgler und Zauderer konnten sich ja noch zwischen SPD und PDS entscheiden. Es gab damals natürlich noch den Demokratischen Aufbruch, die Vereinigte Linke, die Bauernpartei und ähnliche alte und neue Sekten, deren Zweck aus heutiger Sicht nur noch schwer nachzuvollziehen ist. Der ehedem so berechenbare Ostler – er war zum willkürlichen Monster mutiert. Die Ergebnisse der Wahlprognostiker ähneln seit diesem Zeitpunkt immer mehr denen der Meteorologen, zumindest soweit sie den Osten betreffen.
Im Mai 90 mussten dann ja noch die Kommunalwahlen nachgeholt werden, wegen der geschummelten 4 Prozent. In jener Woche rasierte ich mir einen Irokesenschnitt und meldete mich als Wahlhelfer. Beide Entscheidungen können als Beleg dafür gelten, dass ich damals unter ästhetischem Schwachsinn litt. „Was wollen Sie hier? Das Wahlbüro öffnet erst um acht!“ – „Mein Name ist Dan Richter. Ich bin als Wahlhelfer gemeldet.“ Dem Wahlleiter, der seine Helmut-Schmidt-Verehrung durch Kleidung, Haarschnitt, Aussprache und Mütze zu unterstreichen suchte, entglitten die Gesichtszüge. „Ja, wenn das so ist, dann können Sie ja, … äh“, er schien zu grübeln, bei welcher Tätigkeit der ihm gegenüberstehende Punk am wenigsten in Versuchung geraten könnte, das Wahlbüro in Brand zu stecken. „Genau! Sie können ja schon mal die Wahlscheine zählen!“
Nie wieder habe ich so große und unübersichtliche Wahlscheine gesehen – aus der Erfahrung der gefälschten Wahl im Jahr zuvor hatte man den Schluss gezogen, dass das Demokratiebedürfnis im Lande sehr hoch einzustufen ist, und so gab man buchstäblich jedem eine Chance, sich zur Wahl zu stellen. Und damit nicht genug – jeder Wähler hatte auch noch drei Stimmen, die er nach Belieben auf die Kandidaten verteilen konnte. Die erste Wählerin an diesem Tag war alt und schwer sehbehindert. Der Helmut-Schmidt-Imitator versuchte zu helfen und ging mit ihr in die Wahlkabine. Da sie obendrein auch schwer hörte, musste er sehr laut mit ihr reden. „Ja, was wollen Sie denn wählen?“ – „Na die, die immer regieren.“ – „Das gibt’s nicht mehr, dass einer immer regiert.“ – „Na, ich meine die SED.“ – „Die gibt’s auch nicht mehr.“ – „Was? Die gibt’s nicht mehr? Na, was gibt’s denn jetzt?“ Helmut zögerte: „Na, z. B. SPD oder CDU, oder äh … PDS.“ – „CDU? Nein, die will ich nicht! Dann lieber SPD, das ist doch so ähnlich wie SED, oder?“ – „Na ja, äh … Ja.“
Hinterher, beim Auszählen, blickte wegen des komplizierten Auszählsystems keiner mehr durch: „Ist das jetzt noch eine gültige Stimme?“, fragte der Altaktivist, dem man seine PDS-Mitgliedschaft an der beigefarbenen Kleidung ansah. „Hier hat jemand drei mal drei Stimmen gegeben. Der Wahlwille ist doch deutlich, oder?“ – Der Helmut-Schmidt-Imitator runzelte die Stirn: „Na, zeigen se mal her! Neunmal PDS. Na, das geht doch nun wirklich nicht!“ – „Bloß weil’s PDS ist!“ – „Hör’n se uff zu maulen!“ Die Ergebnisse dieser Wahl verstand niemand.
Wie sich später herausstellte, war der einzige Zweck der Volkskammer gewesen, die DDR abzuschaffen. Und seit diesem Zeitpunkt kommen die Wahlprognostiker ins Schwitzen, sobald sie mit dem Osten zu tun haben. Einzig die Sachsen scheinen berechenbar mit ihrer ewigen CDU-Wählerei, was leicht damit zu erklären ist, dass das die einzige Region im Osten war, in der man früher kein ARD empfangen konnte. Zur Belohnung für ihre „Helmüd-Helmüd“-Rufe servierte die CDU ihnen den abgehalfterten Kohl-Opponenten Biedenkopf, der fortan auch den Titel „König“ tragen durfte.
„Aber warum, um alles in der Welt, wählten die Ostberliner mit fast 50 Prozent permanent PDS?“, fragte man sich bei Forsa, Allensbach und der Forschungsgruppe Wahlen. „Haben die vergessen, dass die SED sie eingemauert hatte?“ Was die Analytiker offenbar verdrängen – nicht die Ostler waren eingemauert, sondern Westberlin. PDS-Wählen war einfach ein Zeichen an die alte Diepgen-Landowsky-Truppe: „Passt mal schön auf, sonst fangen wir wieder an zu mauern. Und jetzt habt ihr keine Amis mehr, die euch mit Rosinen bombardieren!“
Dem Hirn des Anhaltiners schien jede Logik abhanden gekommen zu sein. Erst toleriert er die Tolerierung der SPD durch die PDS, und dann wählt er DVU, die eine von ihr herausgegebene Biografie über Gysi mit „Der Rote Judas“ betitelt. Vier Jahre später schafft es der Hamburger Großbürger Schill im armen Bundesland Sachsen-Anhalt beinahe ins Parlament.
Das Ossi-Monster wütet also wie irre bei den Wahlen? Dabei weiß man doch, dass sich Wahltraditionen erst nach längerer Zeit festigen. Auch die Bayern haben etliche Jahre gebraucht, bis sie sich darauf einigen konnten, dass fortan niemand ihren Freistaat regieren sollte als die CSU allein, komme was da wolle. Die SPD konnte im Osten nie an ihre Arbeitertradition anschließen wie in Westdeutschland. Sie blieb intellektuell geprägt. Bündnis 90 hatte seine historische Mission erfüllt – über die Stasi wollte sowieso nur noch der Westen reden. Und die Grünen, die das Bündnis geschluckt hatte, beschäftigten sich mit Problemen, die dem Ossi fremd blieben, in einer fremden Art zu reden und sich zu kleiden.
Solange den großen Parteien im Osten ein festes Image fehlt, werden sie nicht in der Lage sein, eine Traditionswählerschaft aufzubauen. Viel ist somit also von momentanen Stimmungen und Einzelpersonen abhängig. Die innere Logik des politischen Systems, zu behaupten, Lösungen für sämtliche Probleme parat zu haben, und sich genau mit dieser Erwartung konfrontiert zu sehen, greift besonders im Osten auf triviale Weise: Der Ostler erwartet Instant-Lösungen. Und wer sie ihm glaubwürdig verspricht, den wählt er. Wenn die Prognosen also behaupten, die Bundestagswahlen 2002 würden im Osten entschieden, dann ist der sicherste Weg, diese zu gewinnen, den Ossis das Blaue vom Himmel zu versprechen, allerdings auch, die Wahlen 2006 höchstwahrscheinlich zu verlieren.
Mit niemandem habe ich in der letzten Zeit so viel über Politik diskutieren müssen wie mit meiner Oma, die schon einiges durcheinander bringt. Nur in einem ist sie sicher: „Dieser Schträuberle darf auf keinen Fall Bundeskanzler werden. Wenn ich den schon sehe, wie der arrogant und schleimerisch in die Kamera guckt, da wird mir übel. Übel wird mir da!“ Ich bin mir nie sicher, ob sie Stoiber, Schäuble oder gar Ströbele meint oder ob sich diese drei in ihrem Kopf mittlerweile zu einer einzigen Person verdichtet haben – dem arroganten Westpolitiker, dem die Arbeitslosen und die Ostler egal sind, was sich schon dadurch zeigt, dass sie einen süddeutschen Akzent haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen