: Papon erringt Erfolg vor Gericht
Der europäische Menschengerichtshof rügt den Prozess gegen den ehemaligen NS-Kollaborateur Maurice Papon. Der hätte Anspruch auf ein Revisionsverfahren gehabt. Papons Anwälte hoffen, jetzt die Freilassung des 91-Jährigen erwirken zu können
aus Paris DOROTHEA HAHN
„Unfaires Verfahren“. Diese Kritik gegen Frankreich formulierte gestern der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Sachen Maurice Papon. Der wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilte einstige französische Spitzenfunktionär habe, so die sieben Richter, Anspruch auf ein Verfahren vor dem Kassationsgericht gehabt. Weil ihm das verwehrt wurde, verurteilte das Straßburger Gericht den französischen Staat auch zur Rückzahlung der knapp 30.000 Euro Verfahrenskosten an Papon. Seine Anwälte können jetzt erneut versuchen, Revision einzulegen. Sie hoffen außerdem die bislang vielfach verweigerte vorzeitige Freilassung von Papon erwirken zu können.
Papon ist wegen seiner zentralen Rolle bei der Deporation von mehr als 1.400 Juden aus der Region Bordeaux von einem Schwurgericht zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt worden. Gegen dieses Urteil im Jahr 1998 legten seine Anwälte Revision ein. Zwar durfte Papon zwischen den beiden Verfahren auf freiem Fuß bleiben. Doch hätte er sich am Vorabend des Revisionsverfahrens im Oktober 1999 im Gefängnis einfinden müssen. So sah es das gültige französische Recht vor. Stattdessen flüchtete der alte Mann ins Ausland.
Wegen dieser Haftentziehung verwehrte die französische Justiz dem wenig später in der Schweiz verhafteten und nach Frankreich ausgelieferten Papon das Revisionsverfahren. Darin erkannte das europäische Gericht einen Verstoß gegen Artikel 6 der europäischen Menschenrechtskonvention, wonach grundsätzlich die Unschuldsvermutung gelten muss. Zu Papons Verbrechen äußerten sich die Richter nicht.
Das europäische Gericht entschied damit getreu einer Tradition. Es hat Frankreich bereits zuvor in vier anderen Fällen wegen desselben Verstoßes verurteilt. Im Juni 2000 wurde das französische Recht der europäischen Konvention angepasst.
Papon und sein Hauptanwalt Jean-Marc Varault feierten die europäische Entscheidung im Pariser Gefängnis „La Santé“ mit einer Umarmung. Sein Anwalt äußerte sich „optimistisch“ über die Chancen Papons, „bald“ freigelassen zu werden. Noch vorgestern hatte eine französische Richterin einen Freilassungsantrag von Papon abgelehnt. Begründung: Sie sehe keine Chance auf „Resozialisierung“. Zuvor hatte Staatspräsident Jacques Chirac drei Mal Begnadigungsanträge von Papon abgelehnt.
Begrüßt wurde der Straßburger Entscheid auch von Anwälten, die in dem Bordelaiser Verfahren wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit die Angehörigen von jüdischen Opfern Papons vertreten haben. Einige von ihnen hatten bereits vor zwei Jahren die Rechtmäßigkeit von Papons vorzeitiger Inhaftierung bezweifelt. Die Verurteilung wegen Papons Verbrechen stelle der Straßburger Entscheid jedoch nicht grundsätzlich in Frage, erklärte Anwalt Michel Zahoui gegenüber der taz.
Politisch erleichtert der Straßburger Spruch dennoch die Sache für Papon. Der beinahe 92-Jährige, dessen Angehörige seine angeblich angeschlagene Gesundheit als Argument benutzen, kann sich nun auch auf einen Spruch der europäischen Menschenrechtsjustiz berufen. Papon, der einstige „Generalsekretär für Judenfragen“ in Bordeaux, hat nach Kriegsende eine glänzende Karriere in Frankreichs Spitzenverwaltung gemacht. Seine Stationen waren eine Präfektur in der Kolonie Algerien, die Präfektur von Paris (während dem Massaker vom 17. Oktober 1961 an algerischen Demonstranten) und ein Posten als Haushaltsminister von Staatspräsident Giscard d’Estaing. Papons politische Freunde waren einflussreich genug, um ihm nach Kriegsende eine Bescheinigung als Ex-Résistant zu besorgen und um ihn jahrelang vor einem Gerichtsverfahren zu schützen. Die Angehörigen seiner Opfer versuchten seit 1981, ihn vor Gericht zu bringen. Erst nach dem Ende der Ära Mitterrand war das Verfahren wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen den Exspitzenfunktionär und Bürotäter möglich.
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