: Aus dem Schmutz in die Armut
aus Benxi GEORG BLUME
Vor einer halben Stunde ist der deutsche Reporter in Benxi aus dem roten Volkswagentaxi ausgestiegen, unerwartet und unangekündigt. Ohne lange Vorstellung hat sich der Fremde ins Gespräch der Einheimischen gemischt. Benxi, sagt er, sei doch früher die verschmutzteste Stadt Chinas gewesen. Er will wissen, wie es sich hier heute lebt – unter blauem Himmel mit gereinigten Flüssen. Man solle ihm doch die Leiden von damals und die Erleichterungen von heute schildern. Dann fragt er nach den Lungenkrebskranken und ob es diese Krankheit in Benxi heute noch gebe. Da platzt Lei Liang der Kragen.
Scheinbar unbeteiligt, auf einem Holzschemel hockend, hatte die Hure das Gespräch verfolgt. Doch nun springt die 35-Jährige auf und brüllt: „Was fällt Ihnen ein, hierher zu kommen und nur über die Umweltprobleme von gestern zu reden! Sehen Sie denn nicht, wie es uns heute geht? Arbeitslos sind wir alle, haben kaum genug zu essen. Was können wir uns von sauberer Luft kaufen? Nichts. Und die Kranken? Früher wurden sie behandelt. Heute kann keiner von uns mehr einen Krankenhausaufenthalt bezahlen. Aber das interressiert Sie ja nicht. Sie interessieren sich für Flüsse und Bäume. Hauen Sie ab!“
Erschöpft sinkt Lei Liang auf ihren Schemel zurück. So eine Rede hält sie nicht alle Tage. Für einen Moment herrscht Schweigen in der Gruppe mandschurischer Arbeitsloser im alten Arbeiterviertel der Stahl- und Bergwerksstadt Benxi. Dann reden alle auf einmal – der Augenblick ist da, einem lange Zeit angestauten Ärger Luft zu machen. Zwar erinnern sich alle noch an die Zeiten, als Benxi weltweit Schlagzeilen machte, weil der Dreck über der Stadt so dicht war, dass Piloten Schwierigkeiten mit dem Landeanflug hatten. Doch das waren die guten Zeiten.
Heute ist die ehemalige Hochburg der maoistischen Arbeiterbewegung in am Fuße des Changbai-Gebirges, eine Autostunde entfernt von der Sechs-Millionen-Metropole Shenjang, ein Hort der Rückständigkeit. Fabrikruinen und äußerlich verwahrloste Arbeitersiedlungen prägen das Bild einer Stadt, die auf engstem Raum eine Million Einwohner beherbergt. Die große Mehrheit ist arbeitslos. Das Volk hat gelernt, seinen Lebensunterhalt tagsüber auf Märkten und abends mit Prostitution zu bestreiten.
Sexarbeit ist Lei Liangs Gewerbe, seit das Stahlwerk geschlossen wurde, ihr Mann seine Arbeit verlor und die Luft sauberer wurde. Wie tausende andere Ehefrauen ehemaliger Kohle- und Stahlarbeiter in Benxi betreibt Lei Liang heute in einem winzigen Wellblechschuppen ein Nachtlokal: acht Quadratmeter groß, die Wände mit rotem Teppich und Plakaten nackter Frauen verkleidet. Hier hat sie an ein paar Abenden im Monat die neureichen Männer zu Gast, die Nachhaltigkeitsgewinnler, denen auch bei sauberer Luft Geld und Geschäft nicht ausgehen. Von deren Gier nach Frauen hängt heute ihre Familie ab. Lei Liang hat sich gut gehalten, so kommt sie durch, doch die Konkurrenz ist groß. Benxi ist übersät von Lokalen wie ihrem. „Anständige Arbeit ist wichtiger als saubere Luft“, sagt Lei Liang.
Das ist die neue, bislang kaum bekannte Kehrseite der chinesischen Nachhaltigkeitspolitik. Mit jeder Fabrik, die die Pekinger Regierung unter dem Beifall internationaler Umweltlobbyisten schließen lässt, steigt die Zahl der Arbeitslosen, die im von Sozialdiensten bereinigten Reformchina des 21. Jahrhunderts in tiefes Elend fallen. So entsteht innerhalb Chinas beispielhaft jener gesellschaftliche Graben, der auf dem UN-Nachhaltigkeitsgipfel in Johannesburg die reichen von den armen Ländern trennen wird. Nur muss China den globalen Nachhaltigkeitskonflikt im eigenen Land austragen, wo er sich zu einem zunehmend bitteren Verteilungskampf entwickelt.
Es ist in China wie überall auf der Welt: Interesse am Umweltschutz haben zumeist nur diejenigen, die ihn sich leisten können. Umfragen in prosperierenden Städten wie Peking und Schanghai belegen, das hier eine wachsende Mittelschicht den Umweltschutz als dringendste politische Aufgabe erkennt. Kein Wunder, denn Luftverschmutzung und Verkehrschoas sind in den Metropolen der größte Ärger für jeden, der nicht täglich ans eigene Überleben denken muss.
Die Mehrheit der chinesichen Bevölkerung aber ist von dieser Sorge nicht befreit. So empören sich die Arbeitslosen in Benxi darüber, dass ihre Stadt Geld für Begrünungsmaßnahmen ausgebe, während ihnen selbst das gesetzlich garantierte Mindesteinkommen von umgerechnet 40 Euro im Monat nur unregelmäßig oder gar nicht ausgezahlt werde. Für sie ist auch nicht nachvollziehbar, dass die Stadt Peking plant, im Zuge der Vorbereitungen auf die Olympischen Spiele 2008 1,3 Milliarden Euro in Luftbereinigungsmaßnahmen zu investieren.
„Die Gesellschaft wirft uns weg“, klagt Yuan Mei, 39, eine Nachbarin Lei Liangs in Benxi, deren Mann einer der 1.000 von ehemals 80.000 Arbeitern ist, die noch im Stahlwerk tätig sind. „Alles läuft auf High-Tech hinaus, und wir können daran nicht teilhaben.“
Yuan Meis Analyse trifft zu. Auch im Umweltschutz läuft vieles auf High- Tech hinaus, hier steht die internationale Gemeinschaft China zur Seite. So gewährt die Weltbank Peking Kredite über 350 Millionen Euro für die Luftbereinigung. Und westliche Diplomaten loben den Chinas neuen Fünfjahrplan für Umweltschutz, der Ausgaben von 94 Milliarden Euro bis 2005 vorsieht. Als Zeichen der internationalen Anerkennung erhielt die südchinesische Hafenstadt Shenzhen im Juni sogar den Umweltpreis der Vereinten Nationen. Ausgezeichnet wurde, dass 45 Prozent der Stadtfläche von Grünanlagen bedeckt werden.
Allerdings ist die Wolkenkratzerwelt von Shenzhen für die allermeisten Chinesen nur ein ferner Traum. In Benxi lebt Lei Liangs Familie auf zwölf Quadratmetern in einem alten Backsteinbau: Ehebett und das Bett der Tochter, Kühlschrank, Esstisch, Fernseher – alles in einem Zimmer. Dabei muss die Familien froh sein, überhaupt eine Wohnung zu besitzen – ein Anrecht darauf hat sie nicht mehr, seit der Vater seine Arbeit in der Stahlfabrik verloren hat.
Derartige soziale Nöte werden heute im Zuge eine umweltfreundlicheren Politik immer häufiger ignoriert. Das heißt nicht, dass die regierenden Kommunisten den Umweltschutz höher bewerten als das Wirtschaftswaschstum – davon sind sie weit entfernt. Aber man hat die Unwirtschaftlichkeit der alten, umweltschädlichen Industrien erkannt und baut diese rücksichtslos ab. Zugleich ist die Regierung entschlossen, in den Städten Lebensbedingungen für eine Wirtschafts- und Wissenschaftselite zu schaffen, die denen im Westen in nichts nachstehen. Sogar in Benxi wird das sichtbar: Neue Wohnkomplexe in „europäischer Bauweise“ sind am bereinigten Flussufer des Taizihe entstanden, der die Stadt in einem Bogen umfließt. „Dort ziehen nur Parteikader und Geschäftsleute ein“, weiß Lei Liang. Sie hat den Eindruck, dass Umweltmaßnahmen nur den Reichen nützen.
Besonders zahlreich sind die Opfer der Ökologie in den berühmten Braunkohleabbaugebieten, die an den Seitenarmen des Taizihe unweit von Benxi liegen. Hier, im Tal des roten Gesichts (Honglian), lebt der 49-jährigen Bergarbeiter Ma Wunjun. Die Welt jubelte, als China auf der Klimakonferenz in Den Haag im Jahr 2000 eine Reduktion der CO2-Emissionen in dieser Region um einige hundert Millionen Tonnen bekannt gab – die beste Emissionsbilanz aller Länder seit dem Rio-Gipfel. Damals hatten die kommunistischen Behörden auch den Kohleabbau in Honglian gestoppt. Doch nach den Folgen vor Ort fragte niemand.
Ma Wanjun kann von ihnen erzählen. Zehn Stunden täglich steht er noch immer am Kohlewagen, zieht ihn mit dem Seilzug aus dem Schacht heraus, verschiebt die Weichen und lässt die Lore hinunterrollen bis an die Stelle, wo er die Schaufel nimmt und das schwarze Gold auslädt. Dabei hat Ma Wanjun Glück, denn er ist nicht arbeitslos. Wieviel besser aber waren die Arbeitsbedingungen früher im staatlichen Kohlewerk, als noch alle im Tal Arbeit hatten. „Morgens sangen wir Mao-Lieder. Wenn einer krank war, sprang der andere ein,“ erinnert sich Ma Wanjun. Inzwischen ist das Kohlewerk geschlossen, und Ma Wanjun schuftet für eine kleine Privatmine mit fünf Angestellten pro Schicht. Keiner darf mehr krank werden, und niemand käme auf die Idee, bei der Arbeit ein Lied anzustimmen. Der Abbau der CO2- Emmissionen in China hat Ma Wanjuns Leben nur schwerer gemacht.
Man übersieht das leicht. „Im Süden ist der Wunsch nach Gerechtigkeit nur legitim, wenn er einen ressourcenleichten Wohlstand im Auge hat,“ schrieb der Wuppertaler Nachhaltigkeitsexperte Wolfgang Sachs vor wenigen Wochen an gleicher Stelle. So verbitten sich die Umweltschützer reicher Länder, dass Menschen wie die Hure Lei Liang und der Kumpel Ma Wanjun ihre ökologisch ungeschulten Gerechtigkeitsforderungen stellen. Doch ihre Schicksale – von der angesehenen Arbeiterfrau zur Prostituierten, vom singenden Arbeiterhelden zum Schaufelknecht – bergen eine Dramatik, die wir uns zwar als Folgen undedemokratischer oder profitversessener Politik ausmalen, jedoch so gut wie nie in den Zusammenhang mit Nachhaltigkeit bringen.
Auch deshalb wird die Zahl der Ökologieopfer in China weiter wachsen – je höher ihre Zahl, desto zukunftsverträglicher ein Land, das mit einem Pro- Kopf-Konsum und -Energieverbrach wie heute im Westen die Lebensgrundlagen des Planeten mit Sicherheit zerstören würde. Die Hure Lei Liang hatte also schon recht, als sie den deutschen Reporter aus dem Viertel jagen wollte. Denn es liegt in seinem Interesse, dass der Himmel über Benxi blau bleibt.
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