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Politik als Ausdruckstanz

DAS SCHLAGLOCH   von KLAUS KREIMEIER

Auf diesem Gelände geht es immer weniger um Politik und immer mehr um Politik-Simulation

„Du verfügst nicht mehr über dich.“ Gregor Gysi

über und zu sich selbstDie Theoriearbeit der politischen Kommentatoren konzentrierte sich in den letzten Tagen auf einen neuen Forschungszweig: Was mag, seitdem Scharping noch ordnungsgemäß und unter allseitigem Applaus vom Kanzler selbst aus seinem Amt getreten wurde, Politiker wie Özdemir und Gysi bewogen haben, ihm freiwillig nachzuspringen? In der Tat präsentiert uns die Geschichte der Skandale ein neues Phänomen. Erstmals wird der Skandal selbst – die öde Story „Miles & More“ und ihre Aufbereitung durch die Bild-Zeitung – von der Performance der Betroffenen in den Schatten gestellt. Sie verrenken sich zu Figuren, für die es bisher keine Vorlage gab. Allenfalls im Ballett. Dieser Wahlkampfsommer beschert uns den sterbenden Schwan nun auch in der Politik.

Ausdruckstanz und Politik – das passte bisher nicht recht zusammen. Daher der Eifer, mit dem sich die Kommentatoren auf das neue Sujet stürzen. Die Erklärungsmodelle liegen auf der Straße. Ein bisschen Psychologie zum Beispiel. Ist Gysi „der Prototyp des selbstverliebten Einzelkämpfers“ (SZ), ein „sentimentaler Sozialist“ (taz), gar ein „Ich-Erzähler“ (FR)? Die PDS-Sphinx selbst hat solchen Deutungen eine Reihe von Vorlagen geliefert. „Ich fürchte mich vor meinen eigenen Persönlichkeitsveränderungen“ – dies und ähnliches soufflierte Gysi, grazil freudianisch, den O-Ton-Jägern schon öfter in den Notizblock. Die zweieinhalb Rücktritte, auf die er zurückblicken kann, wären somit weniger eine Konsequenz politischer Frustration als die ins Tänzerische gewendete Veräußerung einer grüblerischen Innenschau. Gysi als sterbender Schwan, der uns schon darum erhalten bleiben wird, weil seine Pirouetten die Chartlisten der Talkshows erobert haben.

Aber Psychologie, angewandt auf Politik und Politiker, war schon immer ein heikles Geschäft. Das mochte bei Churchill oder Adenauer noch halbwegs funktionieren, doch schon bei Brandt blieb am Ende aller Analysen ein blinder Fleck. Heute stellen sich dem Analytiker neue Fragen. Woran soll er sich halten: an die „öffentliche Person“, an die persona (nämlich die Maske, die diese öffentliche Person gerade ausprobiert) oder an den „Menschen“, der jenseits des Öffentlichen und unter allen Maskeraden womöglich rudimentär erhalten geblieben ist? Schon diese Frage wirkt unzeitgemäß. Die Vorstellung, dass ein moderner Politiker in eine „öffentliche Person“ und einen (irgendwie authentischen) „Menschen“ aufzuspalten sei, ist rührend, aber auch rührend obsolet. Woran liegt das?

Gern werden „die Medien“ für den neuen Politiker-Typus verantwortlich gemacht. Das ist schon darum verfänglich, weil wir über ihn nichts wüssten, gäbe es „die Medien“ nicht. Und: Auch der Diskurs über den Medien-Politiker ist ein Medien-Diskurs. Als Leser und Zuschauer sind wir Medien-Beobachter und rezeptive Akteure, also Mitspieler im Medien-Szenar. Wir reagieren alarmiert, moralisch entrüstet, ironisch oder tief betroffen und wissen dabei ganz genau, dass unsere Betroffenheit, unsere Ironie, unsere moralische Entrüstung und der Alarm, den wir schlagen, das Schwungrad der Medialisierung lustig antreiben. Konsequenz: Der öffentliche Mensch, nicht nur der Politiker, ist ein Medienmensch, und ihm bleibt gar keine andere Wahl, als die Rollen auszuprobieren, die ihm die Medienwirklichkeiten – von der täglichen Seife bis zum „Wort am Sonntag“ – anbieten. Fliege verkörpert in etwa diese Spannbreite, und darum ist es kein Wunder, dass sich so viele Politiker anstrengen, so ähnlich wie Fliege zu sein.

Meine Diagnose: Unsere Politiker leben in Stresssituationen, die früher unbekannt waren und denen sie immer weniger gewachsen sind. Ich plädiere nicht für Mitleid mit Scharping, Özdemir, Gysi, Schlauch oder Trittin. Doch die Mutationen, die sie sich abverlangen oder die ihnen abverlangt werden, überforden offensichtlich ihre psychische und intellektuelle Ausstattung. Als sich Scharping im Planschbecken von Mallorca fotografieren ließ, hat er sich – dies sei ihm zugestanden – maßlos unter Druck gesetzt und wohl allen Ernstes ein „neues Image“ ausprobiert. Egal, ob ihn seine Medienberater in diese Situation hineingetrieben oder im Stich gelassen haben: Sie wurde zu einem Desaster für die gesamte Regierung, sodass Schröder nur einen geringfügigen Anlass brauchte, um den Medienexperimenten seines unglücklichen Ministers ein Ende zu setzen.

Und Özdemir? Die Aura einer gelungenen anatolisch-schwäbischen Synthese, mit der er auftrat, war politisch opportun, aber sie war „medien-induziert“ und für jemanden, der gleichzeitig den Playboy der Berliner Republik spielen wollte, eine halbe Nummer zu groß. Trittin ist noch im Amt – aber sein wütend verhaspeltes Lamento in eigener Sache bei Sabine Christiansen am Sonntag zelebrierte die Pose des sterbenden Schwans sogar bis in die Verschraubungen seiner Körpersprache.

Gysi als sterbender Schwan, der uns erhalten bleiben wird, weil seine Pirouetten die Talkshows eroberten

Was ist mit unseren Politikern los? Und warum sind es ausnahmslos „Linke“, die derzeit aus vergleichsweise nichtigem Anlass zurücktreten und ihre Rücktritte zerknirscht (Özdemir) oder in koketter Darbietung ihrer Persönlichkeitsspaltung (Gysi) zu Opernereignissen stilisieren? Die Vermutung, hier zeige sich ein altes Dilemma, nämlich das verquälte Verhältnis der Linken zur politischen Macht, ist nahe liegend, aber falsch. Eher verhält es sich so, dass die Mutation des klassischen Politikers zum Medien-Promi, in Deutschland jedenfalls, im sozialdemokratisch-grünen Spektrum am weitesten vorangeschritten ist. Die sinistre Faszination, die im europäischen Maßstab derzeit rechten Populisten vom Schlage Haiders oder Fortuyns zugeschrieben wird, lenkt davon ab, dass bei uns die Linken am meisten aufzuholen hatten und auf dem Weg in die Postmoderne am schnellsten vorgeprescht sind. Nun sind sie Anwärter auf Spitzenplätze in einem neuen Szenario, in dem es immer weniger um Politik und immer mehr um Politik-Simulation in einem äußerst glitschigen Gelände geht.

Allerdings – dieses neue Aktionsfeld bietet den Akteuren auch neue Optionen, die übrigens erklären, warum sie aus ihrem Rücktritt einen spektakulären Auftritt machen. Es wäre ja denkbar, dass Gysi sich seine Persönlichkeitsveränderungen zu Herzen nehmen und auf längere Zeit ganz still in seinen vier Wänden verschwinden würde. Das ist jedoch nicht zu befürchten. Wenn jemand seine multiple Verfassung so marktgerecht platziert, ist anzunehmen, dass er nach neuen Aufgaben in der Zirkuskuppel Ausschau hält. Politiker sein ist eine Sache – eine ganz andere, attraktivere ist es, dem politischen System als Berater, Dompteur, Kommentator, gegebenenfalls auch (mit einer Prise Marx) als Leichenredner zur Verfügung zu stehen. Die Übergänge zwischen Verantwortung und Inszenierung sind fließend. Der Simulationsmarkt expandiert. Während die Politik ihre Gestaltungsmacht an den Nagel hängt, vervielfältigt sich das Repertoire ihrer Ersatzfunktionen.

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