WER ERWERBSLOSIGKEIT AKZEPTIERT, FINDET NEUE WEGE IHRER BESEITIGUNG: Sargnagel oder Lebenselixier
Die Äußerung kommt belanglos daher, obwohl sie äußerst brisant ist. Vier Millionen Arbeitslose müsse man „in diesem Jahr als soziale Wirklichkeit akzeptieren“, sagt der neue Vorstandsvorsitzende der Bundesanstalt für Arbeit, Florian Gerster. Bei der Präsentation der aktuellen Arbeitslosenstatistik nebenbei fallen gelassen, könnte der Satz einen grundsätzlichen Sinneswandel markieren – ähnlich dem, der schließlich zur Einsicht geführt hat, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist.
Gersters Äußerung lässt sich auch so lesen: In der gegenwärtigen historischen Situation ist es prinzipiell extrem schwierig, eine ausreichende Zahl von regulären Jobs zur Verfügung zu stellen. Dafür sprechen einige Erfahrungen: In 15 Jahren ABM-Geschichte ist die staatliche Stellenzauberei oft ins Leere gelaufen. Außerdem öffnet sich in den reichen Ländern mit zunehmender Sättigung der Märkte die Schere zwischen steigender Produktivität und mangelnder Nachfrage. Angeblich gibt es Gegenbeispiele: die USA im Boom der späten 90er-Jahre, oder auch Frankreich und Holland. Doch auch diese werden jetzt von der immer wiederkehrenden ökonomischen Krise eingeholt. Nun gibt es zwei mögliche Schlussfolgerungen.
Zunächst die zynische: Die „natürliche Arbeitslosigkeit“ liegt demnach bei zehn Prozent. Man kann nichts dagegen tun, die betroffene Bevölkerung muss mit Repression und Versorgung auf möglichst niedrigem Niveau ruhig gestellt werden. Zweitens die zukunftsfähige Variante: Die Erkenntnis könnte reifen, dass es keinen Sinn mehr hat, Leute in ein System hineinzupressen, das sie nicht braucht. Nun kann die Suche nach etwas Neuem beginnen. Und man kommt zum Beispiel zur Idee des existenzsichernden Grundeinkommens, das die Gesellschaft als Gegenleistung für bürgerschaftliches Engagement in Initiativen, im Stadtteil oder in Sportvereinen zahlt. In ähnliche Richtung geht auch der Vorschlag der Hartz-Kommission, Schwarzarbeit gegen minimale Abgaben zu legalisieren.
Das ist die langfristige Perspektive. In den nächsten Wochen ist Gersters Erkenntnis möglicherweise erst einmal ein Nagel zum Sarg der rot-grünen Regierung. HANNES KOCH
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