: Achtung, Europa
Die Vereinigten Staaten brauchen ein starkes Gegengewicht. Die Europäische Union ist nicht so machtlos, wie sie sich darstellt – wenn ihre Regierungen gemeinsam handeln
Die Regierung George W. Bush will den Krieg gegen den Irak. Sie hat – vielleicht als Reaktion auf die europäische und besonders die deutsche Kritik? – jetzt ihre Worte etwas gezügelt, ihre Entschlossenheit nicht. Für sie ist der Kampf gegen den Terror nur noch ein Zitat, mit dem sie eine regelrecht expansionistische Außenpolitik drapiert. Aus der Suche nach al-Qaida wurde der Krieg gegen das Afghanistan der Taliban. Jetzt ist der Irak dran, der mit dem Terrorismus nachweislich nichts am Hut hat. Morgen geht es, muss man befürchten, gegen den Iran. Die schreckliche Attacke auf das Welthandelszentrum hat die Bush-Regierung vorrangig dazu benutzt, ihre geo- und energiepolitischen Interessen sowie das Sicherheitsverständnis der Likud-Koalition in Israel zu bedienen.
Die europäischen Verbündeten sind schockiert. Was ist aus der westlichen Führungsmacht geworden, die den Kalten Krieg bravourös bestanden und nach dessen Ende die Vereinten Nationen zum Zentrum der Neuen Weltordnung ausgerufen hatte? Wieso will Washington, einst Albtraum jedes Aggressors, nun selbst zum Angreifer werden? An der Machtfülle der USA kann es nicht liegen. Vater Bush und Präsident Clinton haben sie weise und zurückhaltend benutzt. Aus der Reihe tanzte erst der jüngere Bush mit seiner Koalition aus Rechtskonservativen, christlichen Fundamentalisten, der Raketen- und der Energielobby. Sie nutzt die amerikanische Machtfülle zum weltpolitischen Alleingang. Sie steigt aus der Rüstungskontrolle aus und setzt auf Aufrüstung. Sie entzieht sich jeder vertraglichen Bindung, sogar dem Internationalen Strafgerichtshof, einem Produkt gerade amerikanischen Denkens.
Die Bush-Administration ist nicht repräsentativ für Amerika, aber sie ist an der Macht. Sie hat die Nato als Bündnis unter Gleichen abgeschrieben. Für Bush ist die Allianz keine atlantische Verbindung, sondern eine amerikanische Ziehbrücke, die auch hochgezogen werden kann. Der Luftkrieg gegen Serbien war das letzte „Hurra“ der Nato. In Afghanistan trat sie militärisch nicht mehr in Erscheinung; im Zusammenhang mit dem Irak wird sie nicht einmal erwähnt. Sie bildet nur noch ein Reservoir, aus dem die USA bei Bedarf Hilfswillige abrufen.
Zwar dient die Allianz nach wie vor als Führungsinstrument der amerikanischen Europapolitik. Deswegen werden ihr im November mindestens sieben osteuropäische Staaten beitreten. Aber weil Washington seit Mai seine Direktverbindung nach Moskau gestärkt hat, können die alten Verbündeten von der politischen Bedeutung der neuen Nato nicht mehr profitieren.
Was bleibt ihnen? Sie könnten sich mit dieser Abhängigkeit abfinden, die in die Zukunft fortzuschreiben verspricht, was in der Vergangenheit leicht zu tragen war. Aber der Schein trügt. Die Bush-Politik der selektiven Weltherrschaft ist höchst gefährlich. Sie wird den Terrorismus nicht besiegen, sondern anfachen. Am Ergebnis der Politik Scharons, die ebenfalls nur auf die Gewalt setzt, lässt sich dieser Zusammenhang ablesen.
Kommt es zum Irak-Krieg, werden Turbulenzen in einer mit Waffen und Konflikten zum Bersten gefüllten Region ausgelöst, die in keinem Verhältnis zur Bedrohlichkeit von Saddam Hussein stehen. Gegenüber dieser Politik ist nicht „uneingeschränkte“, sondern kritische Solidarität am Platze. Präsident Chirac und Bundeskanzler Schröder haben ein Stück der richtigen Weltordnung rekonstituiert, als sie die Anordnung des UN-Sicherheitsrates zur Vorbedingung jedes Angriffs auf den Irak erklärt haben. Hoffentlich bleiben die Westeuropäer dabei.
Sie könnten, zweitens, den hegemonialen Leidensdruck in den Aufbau von Gegenmacht transformieren. Jede Hegemonie erzeugt ihren Herausforderer. Die Europäer sollten aber nicht zum machtpolitischen Rivalen der USA aufwachsen; dafür ist die atlantische Gemeinschaft zu wichtig. Die europäisch-amerikanische Zusammenarbeit muss erhalten, aber reformiert werden. Was sie dringend braucht, ist ein europäisches Gegenlager zum amerikanischen Übergewicht. Im Sachbereich der Wirtschaft und Währung ist es vorhanden, in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik erst im Aufbau. Den größten Hemmschuh bildet die Nato, weil ihre eingefahrenen Entscheidungsprozesse die Europäer singularisieren und die USA privilegieren. Eine Phase spürbarer Dissoziation ist unvermeidlich.
Der EU-Beschluss von Köln, Juni 1999, eine eigene Interventionstruppe aufzubauen, war schon erlahmt, als er durch die deutsch-französischen Entscheidungen in Schwerin neuen Elan bekam. Die EU legt sich eine von den USA unabhängige Satellitenaufklärung zu, vielleicht sogar ein eigenes Hauptquartier in Verhofstadt. Sie wird ihre Streitkräfte modernisieren. Was sie vor allem braucht, ist eine integrierte Außen- und Sicherheitspolitik. Auch das Konzept dazu ist in Schwerin in Auftrag gegeben worden.
Der Verselbständigungsprozess der Union bekäme weiteren Auftrieb, übernähme sie das Kommando der „Amber Fox“-Operation in Mazedonien. Sollten Griechenland und die Türkei als trojanische Pferde der USA die Benutzung von Nato-Einrichtungen weiter blockieren, müssen die Europäer eigene aufbauen und dafür ihre Nato-Beiträge heranziehen. Es ist schade, dass sie dem amerikanischen Poker nachgegeben und den USA praktisch Immunität vor dem Internationalen Strafgerichtshof eingeräumt haben. Washington hätte kaum den Balkan verlassen, weil es den Einfluss dort behalten will. Und wenn doch – die EU wäre reich und militärisch stark genug, um die Lücke zu füllen. Nur eben diesmal nicht als „Putzfrau“ der Amerikaner, sondern als Herr im europäischen Haus. Das amerikanische Halsband muss abgelegt werden. George W. Bush macht’s nötig.
Ihre Definitions- und Finanzmacht könnte die EU schon heute einsetzen. Statt sprachlos hinzunehmen, wie die Bush-Regierung den Kampf gegen den Terror in den Krieg gegen den Irak ummünzt, den Nahostkonflikt nicht beruhigt, sondern durch Tatenlosigkeit eskaliert, sollte die EU den Frieden in Nahost zum weltpolitischen Hauptthema machen. Sie kann ihn nicht erzwingen, aber ihn mit ihrer Definitionsmacht vorantreiben kann sie allemal.
Sie könnte noch mehr. Bush vermag den Irak-Krieg nicht zu führen, wenn die Europäer ihn nicht bezahlen. Mit ihrer Finanzmacht wären sie in der Lage, Bushs Herrschaftsappetit zu zügeln, der Welt einen weiteren Krieg und dem Steuerzahler viel Geld zu ersparen.
Die Europäische Union ist sicherheitspolitisch nicht so machtlos, wie sie sich darstellt. Was ihr fehlt, ist der Wille der Regierungen, gemeinsam zu handeln. Washington hat schon immer diesen Integrationsprozess mit bilateralen Privilegierungsangeboten aufzuhalten versucht, aber er kommt voran. Er wird der atlantischen Gemeinschaft jene neue Figur geben, zu der auch die Nato gehört, die sie aber nicht mehr ausfüllt. Das alte Bündnis, jedenfalls, gibt es nicht mehr. Die Zeitläufte haben es überholt. ERNST-OTTO CZEMPIEL
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