: Reise nach Jerusalem
Seid ihr betroffen? Yes, irgendwie schon. In Berlin gelang es Patti Smith, das Gestern als fort-währenden Tigersprung ins Hier und Jetzt zu verlängern: Bis die Saiten lose im Feedback flatterten
von HARALD FRICKE
Über dem Eingang steht „Der Deutschen Kunst“. Friedrich August Stüler hat die von ihm 1871 erbaute Alte Nationalgalerie einem griechischen Tempel nachempfunden, vor dem sich die Menschen nun wie in einem schnell improvisierten Lustgarten versammelt haben – durch dunkle Stellwände wird das Gelände abgeschirmt. Das sorgt nicht wirklich für Exklusivität und macht die Berliner Museumsinsel auch nicht zum Gegen-Bayreuth, obwohl der Eintritt an der Abendkasse gutbürgerliche 45 Euro kostet.
Später wird die wuchtige Fassade des Gebäudes rot und blau angestrahlt, während auf der karg mit Stoff verkleideten Bühne nur spärliche Scheinwerfer leuchten. Noch immer gibt Patti Smith ihre Auftritte in einem Rockpalast-Setting, und nicht als neubarockes Sound-&-Vision-Event. Noch immer legt sie kaum Wert auf Garderobe, sondern trägt verwaschene Jeans und schwarzes Jackett, das Haar dazu aschenstaubgrau. Und noch immer ist ihre Stimme das Phänomen, das über zwei Stunden Länge die Reihen des Publikums fest geschlossen hält.
„Anthemic artlessness“, die Kunst der Kunstlosigkeit, das ist die Marschroute, die Smith vorgibt seit Mitte der Siebzigerjahre. Doch dies ist nicht das CBGBs im Prä-Punk-New-York: Jede andere Band würde mit dem schmucklosen 3-Akkord-Geschrammel eine solche Veranstaltung trotz Mythen-, Miles- and More-Bonus innerhalb weniger Minuten leer spielen. Bei Patti Smith bleibt es dennoch mäuschenstill, wenn sie schon im Eröffnungsstück „Beneath The Southern Cross“ zur akustischen Gitarre über eine gottverlassene Welt wehklagt. Kein Handy wagt es, in diese angenehm unaufgeregte Outdoor-Atmosphäre hineinzuklingeln. Wo sonst unentwegt Werbeteams ihre Zigaretten oder Energy-Drinks verteilen, ist das Konzert praktisch eine marketingfreie Zone. Nicht einmal in der Kirche geht es gesitteter zu.
Zwischen den Liedern verbeugt sich Patti Smith tief und tänzelt mit ihrem mageren Körper um das Mikrofon, ganz Poète maudite. Manchmal winkt sie den hinteren Reihen zu, dann wieder hält sie kurze Monologe. Die amerikanischen Truppen sollen raus aus Afghanistan, Palästina muss endlich einen eigenen Staat bekommen und überhaupt: Peace for Israel! Die friedensbewegten Sätze sind weder Predigt noch pazifistisches Programm, sie könnten in ihrer gangbaren Unverbindlichkeit selbst Gerhard Schröders Redenschreiber unterlaufen. Doch bei Patti Smith schwingt eine NGO-gestärkte Bereitschaft zum Handeln mit, die dem Polittalk meist fehlt – ein moralisches Wir, das alle eint. Seid ihr betroffen? Yes, we are, irgendwie schon.
Nicht von ungefähr war ihr „People have the power“ die musikalische Unterstützung für Ralph Nader im Wahlkampf der US-Grünen. Auch in Berlin spielt sie das Lied, über jeden Zweifel erhaben, weil Rot-Grün an der Regierung bleiben soll. Gleichwohl sind die Sympathien der inzwischen 55-jährigen Patti Smith weiter than ever gestreut: „One Voice“ ist ein Tribute an Mutter Teresa, mit dem Cat-Stevens-Cover „Peace Train“ wünscht sie sich eine gemeinsame Zukunft für palästinensische und israelische Kinder. So viel neutestamentarische Güte findet man nicht einmal mehr bei Bono, doch Patti Smith trägt das alles mit einer Herzensaufrichtigkeit vor, die einem auf dem Weg nach Hause sehr peinlich aufstößt, während des Konzerts aber das Denken durchschüttelt wie das Amen bei einer Gospelstunde.
Das macht ja gerade die Stärke amerikanischer Barden aus dem Volk aus: Henry David Thoreau, Walt Whitman, oder eben Bruce Springsteen, Bob Dylan und Neil Young. In ihren Texten liegen die Zumutungen der Zivilisation und das individuelle Hoffen auf ein erlöstes Dasein nah beieinander. Last Exit: Einsiedel – eine Nation, eine Wildnis. Mit ihrer besenfegend schwingenden Interpretation von „When Doves Cry“ hat Patti Smith sogar Prince dieser Riege einverleibt.
Der Rest ist ein Blick zurück, auf tote Freunde wie Robert Mapplethorpe, der sie für „Heroes“ als Keith-Richards-Verschnitt im Frank-Sinatra-Look fotografierte, und auf all die anderen. Es ist eine Reise nach Jerusalem, auf der die Stühle stehen geblieben, doch die Mitspieler längst verschwunden sind. Dauernd kreisen bei Patti Smith Erinnerungen im Kopf, weil der August zum Monat der Trauer wurde. 1997 ist ihr Beat-Ziehvater Allen Ginsburg in dieser Zeit gestorben, zwei Jahre vorher war es der Grateful-Dead-Head Jerry Garcia, also bekommen beide ein Lied gewidmet. Ein Song geht auch an ihren Mann Fred „Sonic“ Smith, der nach seiner Zeit bei MC5 mit ihr in der Band spielte und 1994 im November starb. Manchmal schneit es eben im August: Fred war zwar jener Frederick, für den sie auf ihrem Album „Wave“ 1979 sang, dass Schutzengel auf ihn aufpassen sollen; aber nach seinem Tod mag sie ihm diese Zeilen offenbar nicht zumuten und spielt deshalb das 1978 entstandene „Because The Night“.
Der Song war ihr einziger Chart-Hit, mit dem der angry young Dichterinrock von Smith damals auch nach Deutschland schwappte. Der Boom war groß, in den Diskotheken und auf Partys fingen die Frauen an, ausdrucksstark zu tanzen, wann immer das Stück aufgelegt wurde, in dem die Nacht noch jung war und das Begehren am richtigen Fleck. Das Leben beginnt zwischen den Beinen, mit dieser Botschaft machte Smith die sexuellen Freiräume offen wie sonst nur Nina Hagen. Die aggressive Unmittelbarkeit hat ihr eine zählebige Community gebracht, die nicht aus smarter Distanz der eigenen verlorenen Jugend nachhängt oder gleich die Retrorührseligkeit am Bierstand ertränkt, während sich auf der Bühne Stücke wie „25th Floor“, „Redondo Beach“ oder „Dead City“ abwechseln. Tatsächlich schafft es Patti Smith, das Gestern als fortwährenden Tigersprung ins Hier und Jetzt zu verlängern: Das geht mit Gitarren, an denen sie rupft, bis die Saiten lose im Feedback flattern, das geht mit Oldschool-Chorälen wie „Gloria“ oder mit „Rock ’n’ Roll Nigger“. Seltsam nur, dass sie auf das „Babelogue“-Intro verzichtet. Möglicherweise kommen auch bei ihr Sätze wie „In Heart I’m a Muslim, in Heart I’m an American“ nach dem 11. September doch nicht mehr so leicht vom Herzen.
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