: Mehr Willy wagen
Die Sozialdemokraten standen schon einmal nach einer Wahlperiode am Abgrund: 1972. Schröder könnte von Brandt lernen, wenn er ein geschichtsbewusster Soze wäre
Der Kandidat galt als fleißig, strebsam und kalt. Der Kanzler war nicht sonderlich pflichtbewusst, er trank gern Rotwein, liebte Frauen und Witze. Der Herausforderer schien der sichere Sieger zu sein: Der Kanzler hatte keine Mehrheit mehr, ihm waren die Abgeordneten davongelaufen, die Umfragen waren schlecht. Am Ende geschah dennoch ein Wunder: Der Amtsinhaber siegte bei der Bundestagswahl, wie niemand vor oder nach ihm siegen sollte.
Willy Brandts 45,8-Prozent-Triumph über Rainer Barzel am 19. November 1972 ist bis heute der größte Wahlerfolg in der sozialdemokratischen Parteigeschichte. 1972 und 2002: Für um jede Stimme kämpfende Sozialdemokraten könnte die Konfrontation Brandt – Barzel die passende historische Analogie zur Auseinandersetzung Schröder-Stoiber sein – weitaus passender als der vielfach herbeizitierte Wahlkampf zwischen Strauß und Schmidt im Jahr 1980. Doch weit gefehlt: Dreißig Jahre nach ihrem historischen Sieg mag sich eine durch den Sommer der Entscheidung taumelnde SPD offenbar nicht mehr an ihre stärkste Stunde erinnern.
Die sozialliberale Regierung war seit 1969 von Erschütterungen gebeutelt, heftige Streitereien und Ministerrücktritte waren an der Tagesordnung. Auch das politische Schwergewicht im Kabinett, den populären Superminister für Wirtschaft und Finanzen, Karl Schiller, hatte Brandt am Ende verloren. Schiller, in dem viele bis heute den eigentlichen Wahlsieger von 1969 sehen, trat zurück und kritisierte fortan die Regierungspolitik, mitten im Wahlkampf. Einer seiner Nachfolger, Oskar Lafontaine, auch er ein eigentlicher Wahlsieger und Liebhaber ökonomischer Globalsteuerungen, sollte es ihm nachmachen.
Die Union kam in diesen Jahren mental nicht wirklich in der Opposition an. Noch ihr Misstrauensvotum gegen Brandt wurde im Bundestag am 27. April 1972 vom Altkanzler Kurt Georg Kiesinger begründet. Der Machtverlust 1969 sollte dadurch auch symbolisch rückgängig gemacht und der scheinbare Normalzustand der bundesdeutschen Demokratie – die Union in der Regierung, die SPD in der Opposition – wiederhergestellt werden. Kein Neuanfang war geplant, sondern die Renaissance des Status quo ante: Barzels Schattenkabinett war durchsetzt mit Gestalten der Unionsherrschaft vor 1969. Die personelle und programmatische Erneuerung der Union leitete erst später der junge Reformer Helmut Kohl ein.
Trotz der in den Geschichtsbüchern vorherrschenden Deutung der „Willy“-Wahlen 1972 als „Volksentscheid über die Ostpolitik“ (Arnulf Baring): entscheidend war am Ende die Person. Die Abneigung vieler Wähler gegen Barzel blieb konstant, besonders stark waren die Vorbehalte bei Wählerinnen. Brandt dagegen wurde gemocht und verehrt. Eine schwer angeschlagene Regierungspartei gewann damals wider Erwarten die Wahl – schon diese historische Parallele müsste eigentlich für die gegenwärtige SPD stimulierende Wirkung entfalten. Geschichte als Muntermacher für müde Genossen? Auf die Historie als ideelle Wahlkampfressource setzt in der Kampa offenbar niemand. Die SPD erscheint 2002 seltsam ahistorisch gestimmt. Wie sonst wäre es zu erklären, dass im Dezember des vergangenen Jahres niemand es für nötig hielt, sich des einzigen sozialdemokratischen Friedensnobelpreisträgers öffentlichkeitswirksam zu erinnern? Willy Brandt hatte den Preis am 7. Dezember 1971 in Oslo entgegen genommen. Gerhard Schröder ließ die Chance des Jubiläums ungenutzt, nach dem 11. September einer außenpolitisch schwer irritierten Sozialdemokratie zu erläutern, was das wichtigste Erbe Brandts heute unter veränderten Bedingungen bedeuten könnte. Und an den Wahlkampf 1972 erinnert sich heute niemand mehr, nur der Zeitzeuge Klaus Harpprecht darf drei melancholische Seiten darüber in der aktuellen Ausgabe der Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte schreiben. Die sozialdemokratische Amnesie gilt auch für das Misstrauensvotum vom 27. April 1972, die Stunde, in der das Ende Brandts und der sozialliberalen Koalition eigentlich schon feststand – und in der sich das Blatt, wundersam dramatisch und zugleich mehr als anrüchig, noch wendete.
Für eine Partei, die seit fast anderthalb Jahrhunderten wie keine andere politische Formation mit der eigenen Vergangenheit verwoben war, die sich zahllose historische Konferenzen, Kommissionen und Editionen leistet, bedeutet diese innere Abstinenz eine erstaunliche Veränderung. Vielleicht gab es frühe Indizien für diesen Wandel: Schon im November 1998 hatten manche Beobachter stirnrunzelnd registriert, dass der frisch gewählte sozialdemokratische Bundeskanzler nicht an der Zusammenkunft der Staats- und Regierungschefs teilnahm, die sich achtzig Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs trafen. Gleichwohl wirkte es plausibel und zudem authentisch: Gerhard Schröder wollte, zumindest geschichtspolitisch, offenbar doch einiges anders machen als sein Vorgänger. Die Rolle des Geschichtsdenkers gab fortan sein Außenminister und Vizekanzler, der die Geschichte wie bislang nicht einmal Helmut Kohl zum mehr oder minder plausiblen Argument machte. Die Veränderung in der SPD lässt sich zudem nicht am Kanzler allein festmachen. Auch der Rücktritt Oskar Lafontaines als Parteivorsitzender, ein Amt, das vor ihm mythische Figuren wie Bebel, Wels, Schumacher und Brandt innehatten, war für die deutsche Sozialdemokratie weit mehr als nur eine Stilfrage: Ihrem Parteivorsitzenden lag offensichtlich so wenig an diesem geschichtsträchtigen, zahllosen Genossengenerationen heiligen Amt, dass er es in einer einsamen, allem Anschein nach spontanen Entscheidung ohne jede Absprache aufzugeben bereit war.
Traditionsverlust bedeutet auch Freiheitsgewinn. Dieser geistigen Kosten-Nutzen-Rechnung folgte noch jede neue Generation, auch innerhalb der Sozialdemokratie. Kulturkritisches Gejammer über Geschichtsverlust zeugt zudem allzu häufig von intellektueller Unredlichkeit: Wenn Geschichte nicht mehr existenziell als eine Frage von Leben und Tod erfahren wird, also unwichtiger wird, kann das ja nur bedeuten, dass die Gesellschaft friedlicher, bruchloser, prosperierender und glücklicher geworden ist. Dies gilt im übertragenen Sinne auch für die SPD: Wenn sie mit ihren Ämtern und ihrer Organisation nicht mehr einen Schutzraum vor Verfolgung, Not, Pariaerfahrung oder gar Tod darstellt, schließlich auch nicht einmal mehr für den eigenen gesellschaftlichen Aufstieg nötig ist, verliert die Partei für den einzelnen an existenzieller Bedeutung. Wer wollte dies bedauern? Die Erinnerung an die Zeit, in der das noch anders war, wird somit zwangsläufig schwächer, weil sie in der gewandelten Gegenwart nicht mehr viel hilft. Die Kosten dieser Entwicklungen schlagen jedoch genau dann zu Buche, wenn wieder Gefahren auftauchen und Geschichte zur identitätsstiftenden Ressource in der Krise werden könnte.
Dieser Zeitpunkt ist für die SPD im Wahlsommer des Jahres 2002 gekommen. Aber die Partei vermag es im Angesicht ihrer Niederlage nicht mehr, ihre Geschichte zu reaktivieren. Als „stillgelegt und ausgebrannt“ beschrieb im Frühjahr der Göttinger Politikwissenschaftler Franz Walter die deutsche Sozialdemokratie. Dieses Verdikt gilt offenbar auch für das kulturelle Parteigedächtnis. Erinnerung wird allenfalls inszeniert – und dies auch noch schlecht: Niemand glaubte ernstlich, dass es Gerhard Schröder eine Herzensangelegenheit war, mit Martin Walser am 8. Mai in Berlin über die Rolle der deutschen Vergangenheit zu diskutieren.
Am 21. August wird der Kanzler und Parteivorsitzende immerhin in der Evangelischen Akademie zu Berlin eine Rede über Willy Brandt halten. Es könnte allerdings sein, dass es für die geschichtspolitische Mobilisierung seines Vorgängers in beiden Ämtern dann schon zu spät ist. Die Rede würde zum politischen Vermächtnis Gerhard Schröders. Vielleicht liegt im Termin und Thema der Rede aber auch eine eigentümliche Logik: Von Brandt kann man schließlich lernen, wie man nach einer bösen Niederlage, dem Verlust der Kanzlerschaft 1974, lange Jahre die Macht zumindest als Parteivorsitzender behält und weltweiten Einfluss auch jenseits der bloßen Funktion erlangt. Dazu bedürfte es allerdings einer Voraussetzung: Die Partei müsste Gerhard Schröder wichtiger sein als ein Vorstandsposten in der Wirtschaft oder irgendein internationales Amt. Doch das ist wohl ein Denken, das anderen, geschichtsträchtigeren Zeiten entstammt.
ALEXANDER CAMMANN
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