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Der erste eigene Schlüssel

Von der Rundum-Versorgung zur Hilfe auf Abruf: Heute werden in der Stiftung Alsterdorf 48 Apartments für behinderte Menschen eingeweiht. Für viele ein Schritt zu mehr Selbständigkeit

von TINA SPIES

Was für manche schon mit 20 selbstverständlich scheint, ist für die 71-jährige Gerda Friebel eine ganz neue Erfahrung: Erst seit vier Wochen lebt sie in einer eigenen Wohnung, mit ihrem Namen an der Tür, einem Briefkasten und eigener Klingel. Doch nicht nur für sie hat sich Mitte Juli so einiges verändert. Denn auf dem Gelände der Evangelischen Stiftung Alsterdorf wurden vier neue Apartmenthäuser für insgesamt 96 Menschen mit Behinderung bezugsfertig. Heute werden sie eingeweiht, auch Birgit Schnieber-Jastram, Senatorin für Soziales und Familie, wird dabei sein.

Die Einzel-, Doppel- und Viererapartments lösen die herkömmlichen Wohngruppen ab, in denen sechs bis zwölf Bewohner zusammenlebten. Wer mit wem zusammenzieht, wurde dabei im Voraus durch Fragebögen geklärt, die von den Behinderten oder ihren gesetzlichen Vertretern und Betreuern ausgefüllt wurden.

Gerda Friebel zum Beispiel lebt nun mit ihrer Freundin Hildegard Dürand zusammen. „Ich fühle mich hier sehr wohl“, wiederholt sie immer wieder, während ihre Freundin zustimmend nickt. Anfangs stand die 71-Jährige dem Umzug jedoch sehr kritisch gegenüber: Sie kam schon mit acht Jahren in die Evangelische Stiftung Alsterdorf und erlebte bereits den Krieg in dem Gebäude, das nun zugunsten der vier neuen Apartmenthäuser abgerissen wurde. Doch die meisten Bewohner ihrer ehemaligen Wohngruppe und fast alle Mitarbeiter sind mit ihr in das neue Apartmenthaus gezogen, und das hat sie letztendlich überzeugt.

Insgesamt kostet das neue Wohnprojekt rund 7,5 Millionen Euro. Die Hälfte dieser Summe stammt aus einem Investitionsfonds, den die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durch Verzicht auf die ihnen tariflich zustehenden Gehaltserhöhungen angespart haben. So entstanden 48 sehr moderne und helle Wohnungen.

Per Telefon können die Bewohner die Zentrale im Erdgeschoss erreichen oder per Alarmknopf das Handy eines Mitarbeiters. „So ist eine individuelle Unterstützung möglich“, erklärt Rainer Kath, Geschäftsführer der neuen Apartmenthäuser. Ein pauschales Versorgungsangebot gibt es nicht mehr: Jeder Bewohner soll all das alleine und selbständig erledigen können, was im Rahmen seiner Möglichkeiten ist. Für alles andere, kann er Hilfe von den Mitarbeitern anfordern. „Dadurch verändert sich vor allem auch die Rolle der Angestellten. Sie werden zu Assistenten, die die Bewohner lediglich dabei unterstützen sollen, möglichst eigenverantwortlich zu leben“, so Heinz Oberlach, Leiter des Bereiches Kommunikation.

Diese Umstellung von der “Rundum-Versorgung“ hin zur Selbständigkeit geht weder bei den Mitarbeitern noch bei den Bewohnern von heute auf morgen. Auf beiden Seiten gab es Bedenken. Doch schon jetzt sind Fortschritte sichtbar: „Eine Frau zum Beispiel, die schon seit 60 Jahren hier lebt und kaum etwas selbst gemacht hat, wäscht nun plötzlich selbst ab und poliert ihre Wohnung“, erzählt Lutz Schneider, Mitarbeiter der Evangelischen Stiftung. Damit aber „nicht nur die Kekse, sondern auch die Wurst“ im Kühlschrank stehen, sind natürlich nach wie vor Kontrollgänge nötig.

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