: Alles, jetzt, sofort
Der Aufbruch von Woodstock fand in der Bundesrepublik, überhaupt im wohlhabenden Europa, starkes Interesse. Bei uns materialisierte es sich vor allem in der Alternativbewegung, in Projekten wie der taz, den Bunten Listen und, bis heute, der Partei der Grünen
von JAN FEDDERSEN
Them and us. Die und wir. Das war die wichtigste Aussage zum Lebensgefühl, das mit Woodstock verbunden werden kann. Als der Film zum Festival viele Monate nach Ende des Ereignisses auch nach Europa kam, als damit die Augen- und Ohrenzeugenberichte der wenigen Deutschen, die damals auf den Hügeln oberhalb New Yorks dabei waren, auch beglaubigt werden konnten, da sah das – im Übrigen durchweg studentische – Publikum in den damals üblichen Programmkinos ja nur dies: Menschen, die, trampend, im Auto sitzend, zu Fuß, wie bei einer Prozession versuchen, ein Wiesengelände zu erreichen. Dort sollten sie eine Bühne finden, auf der drei Tage lang Musiker, die nicht zum Establishment des Unterhaltungsgeschäft zählten, auftreten sollten.
Obendrein, das belegt der Film zweifelsfrei, regnete es wie aus Eimern. Männer und Frauen hatten dort fast nichts zu essen, weil die Organisatoren kaum das Wort Catering buchstabieren konnten. Der Regen durchdrang die Kleidung; von den Temperaturen her war es eher frisch. Aber was machte das schon! Männer und Frauen in bunten Gewändern, die zusammen Joints durchzogen und in irgendwelchen Büschen am Rande des Parcours versanken, um den eigenen Anspruch auf freie Liebe zu leben. Und immer wieder Musik. Joan Baez noch quäkiger als sonst. Leider kein Bob Dylan, warum auch immer. Dafür The Who, Janis Joplin, Grateful Dead, Country Joe McDonald, schließlich am Ende jener Tage und also auch am Ende dieser Dokumentation (die nach allen Regeln Hollywoods von allen offenkundig politischen Bekundungen wie der verhinderten Ansprache von Abbie Hoffman gereinigt war) Jimi Hendrix und seine Performance, bei der er seine Gitarre zu den elektronisch verzerrten Klängen der Nationalhymne zertrümmerte.
Für mitteleuropäische Nachwuchsfreaks und -hippies muss es ein Lehrfilm gewesen sein, denn er zeigte ja auch, was an Nahrung angeboten wurde: pappige Ökokost fern aller Appetitlichkeit; er zeigte, dass der Regen sinnlichen Nutzen hatte, machte er doch Rutschpartien möglich, als sei es ein Kindergeburtstag ohne elterliche Aufsicht. Und schließlich die Outfits. Frauen in wallenden Gewändern, Männer in Jeans, gebatikten Shirts – alle Farben eher verwischt, vage und erdig. Kinder, die man sah, liefen nackt herum. Schon damals barg diese Bilderflut die leicht identifizierbare Botschaft, dass das Natürliche endlich, endlich zum Wiederdurchbruch gelangen werde.
Da hatte das Glaubensbekenntnis von them and us, von den anderen ganz woanders, denen wir gegenüberstehen, mit denen wir nichts mehr zu tun haben wollen, ja tatsächlich sein Gewicht. Denn während alle (hochindustrialisierte) Welt auf Bequemlichkeit hält, Automobile schon aus Gründen des Mobilitätsgewinns schätzt, einem Begriff von Schönheit anhängt, der mit Worten wie modisch grundierter Eleganz nur unzulänglich beschrieben ist, während man Fastfood schon deshalb mag, weil es nicht so aufwändig zuzubereiten ist – währenddessen schwor die Gemeinde von Woodstock auf Kritik am bürgerlichen Schönheitsbegriff, auf Innerlichkeit, auf Zartheit und menschliche Wärme. Man wollte nicht am rat-race teilnehmen, am Rattenrennen, wie es in Amerika heißt, bei dem es nur darauf ankommt, den Konkurrenten um Titel und Tantiemen auszustechen. Nein, Woodstock, nehmen wir es mal als Chiffre, verkündete einen alternativen Klang nach einem besseren, sinnvolleren Leben, nach einer Vita ohne charakterdeformierende Blessuren – die man sich zuzieht, wenn man entfremdet und naturfern lebt. Them, die da, hielten sich in Vietnam auf: Wozu, sagten sie, leuchtet – us – nicht ein.
Woodstock hieß eben auch in Europa: Freedom’s just another word for nothing left to lose. Und das verstanden viele seiner JüngerInnen als Satz, das eigene Leben aufs Spiel setzen zu können (und sollen), wenn denn das alternative, das ganz andere Leben nicht gelingt. Janis Joplin hat es doch vorgelebt: als Figur, die nur ihre Jugend kannte und sich ein Leben mit Kompromissen nicht vorstellen wollte. Woodstock, sagte ein Festivalteilnehmer Ende der Achtzigerjahre dem Nachrichtenmagazin Newsweek, war doch nur das Fest, bei dem es hieß, Drogen seien okay.
In der Bundesrepublik fand der Film nachhaltige Resonanz, vor allem in Städten mit hohem Anteil von Studierenden. Und liest man Gründungsdokumente von Alternativprojekten, studiert man Erzählungen von Menschen, die damals die Erzählung von Woodstock („Sei du selbst, lass dich nicht manipulieren“) zu ihrer gemacht haben, war es hierzulande, wenige Jahre vor Gründung der Grünen, ebenfalls eine Stimmung des Wir-wollen-es-ganz-anders-jetzt-und-sofort. Das Establishment hatte versagt, die Politik zeigte sich korrupt oder reaktionär, deren polizeilicher Arm sowieso als repressiv. Man wollte nicht als Spießer enden, in Kleinfamilien, in Büroberufen oder im Einfamilienhaus. Die klassische deutsche Nachkriegsästhetik stand auf dem Prüfstand, und sie schnitt durch die Bank ungenügend ab.
Schrankwand, samstägliches Autowaschen, Schlager, Pauschalurlaub, Eintopf – vor diesem Hintergrund kristallisierten sich Vorlieben für Omas altes Küchenbüffet, das Fahrrad, Rockmusik-mit-Anspruch, Ferienhäuser in der Toskana und Pasta (nur Eintöpfe wie die Bouillabaisse waren okay) heraus.
Noch der Gründungsparteitag der Grünen Ende 1979 (kein Klischee: strickende Männer, Frauen mit langen, blockflötenhaft gescheitelten Haaren) gab seinen Anspruch auf die Alternative schlechthin zu Protokoll. Petra Kelly mit ihrer Formulierung, die Grünen seien eine Antiparteienpartei, war ihre prominenteste Funktionärin. Nichts mit den anderen zu tun haben, keine Koalitionen, keine Absprachen, Opposition aus Prinzip, Misstrauen gegen alles und jeden – dieser missionarische, bockige Sound nervte nicht erst Ende der Siebzigerjahre viele Menschen.
Nicht so sehr deshalb, weil der Protest gegen Spießer und die formierte Republik (Ludwig Erhard) oder die Kritik an einer Gesellschaft, die für eigensinnige Charaktere kaum Luft zum Atmen ließ, nicht einleuchtete. Sondern weil die Kritik am westlichen Modell des Lebens bodenlos war – und weil der Satz Freedom’s just another word for nothing left to lose eben nicht stimmte. Es gab sehr wohl etwas zu verlieren, nämlich eine bundesdeutsche Gesellschaft, die sich als moralisch und sittlich wesentlich flexibler und offener erwies (Oswalt Kolle, die Popfigur; Willy Brandt, Held des Mehr-Demokratie-Wagens), als die Alternativen glaubten (oder eben glauben wollten).
Anfang der Siebzigerjahre, mitten aus der Woodstockszene heraus, wurde auch die Mentalität öffentlich gemacht, die SPD zu wählen ginge zwar in Ordnung, aber nur als das „kleinere Übel“ – als ob eine politische Wahl je mehr sein könnte als die Entscheidung zwischen Annäherungen – das ganze Leben ist so. Jedes totale Ja ist undenkbar oder hätte utopische Züge – und von Utopien hatten die Deutschen, der Jahre zwischen 1933 und 1945 und des Anschauungsunterrichts in der DDR wegen, die Schnauze voll.
Dieser besserwisserische Klang der Alternativbewegung, dieses naserümpfende Tut-man-nicht, wenn einer sich weigert, den Müll zu trennen, wenn einer kein Vollkornbrot mag oder McDonald’s für eine passable Variante heimischer Kochkunst hält, dieser hindert noch heute die Grünen daran, wirklich und unabhängig von weltanschaulichen Differenzen gemocht zu werden. Die Parallele mit den amerikanischen Originalhelden von Woodstock? Mehr noch als das politische Establishment hassten die schwarzen GIs im südostasiatischen Dschungel die Kämpfer der Friedensbewegung: Im Gegensatz zu ihnen hatten sie Geld und Verbindungen, die Einberufungen juristisch zu verhindern – oder mit elterlichen Mitteln ins Ausland zu desertieren. Woodstock – das war für die schwarze Bürgerrechtsbewegung eine Ansammlung satten weißen Nachwuchses, dem es im Schatten der gut verdienenden Vorfahren ein wenig langweilig geworden war.
Der amerikanische Politologe Richard Rorty hat das in seinem Buch „Stolz auf unser Land. Die amerikanische Linke und der Patriotismus“ sehr hübsch notiert: Die Achtundsechzigerbewegung hat bei aller Emphase für minderheitliche Anliegen gänzlich die Arbeiterklasse aus dem Blick verdrängt, besser gar nicht erst ins Gesichtsfeld kommen lassen. Sie hatte tatsächlich etwas zu verlieren – und nicht erst eine Welt zu erobern. Der Befund mag für die Grünen mit gelten: Ihre geschmackspolizeilichen Ermittlungen gegen alles, was ihnen nicht in ihr Bild einer guten Ökowelt passte (ihre Kritik am Automobilwahn, an schlechten Essgewohnheiten, am Fernsehkonsum, überhaupt am bequemen Leben), litten stets an einer gewissen Resonanzlosigkeit. Das Millionenpublikum hörte es – und war verstimmt, nicht erst seit dem Magdeburger Benzinbeschluss. Die Kritiker des Spießers waren plötzlich selber welche: Das tut man nicht!
Was blieb also von Woodstock? Ästhetisch jede Menge Nonkonformität – niemand muss mehr einer Mode frönen, wenn er eine eigene bevorzugt. Und gesellschaftlich ein politikfähiges Umweltbewusstsein. Und Ideen davon, dass das klassische Rattenrennen – der Mann strebt der Karriere entgegen, die Frau hütet Haus und Kinder – gut überlegt sein will. Jeder könnte vieles, wenn er oder sie es wollte: Das System hat sich als dehnbar erwiesen – die Kinder von Woodstock haben darin ihre Nischen finden können. Mehr durften sie ernsthaft, unter demokratischen Verhältnissen, wo Missionare auch nur je eine Stimme haben, nicht erwarten.
JAN FEDDERSEN, Jahrgang 1957, taz.mag-Redakteur, veröffentlichte das Buch „Woodstock. Ein Festival überlebt seine Jünger“ (Ullstein, Berlin 1999, 242 Seiten, 8 Euro)
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