: Statt ins Abseits in die Mitte
Reibungen zwischen „Partei“ und „Bewegung“ sind so alt wie die Massenparteien der Linken. Denn Parteien müssen heterogene Interessen bündeln und, einmal an der Regierung, stets „faule“ Kompromisse eingehen, während soziale Bewegungen – wenigstens eine Zeit lang – der reinen Lehre verpflichtet bleiben, ihre Identität pflegen und punktgenaue Kampagnen initiieren können.
Die Sozialdemokratie vor 1914 genau wie später die ökologischen Parteien haben den Streit zwischen Fundis und Realos exemplarisch durchexerziert; beide lassen sich als Partei gewordene Bewegungen charakterisieren, womit klar wird, dass bei allen Unterschieden die partei- und bewegungsförmigen Aktivitäten in einem Mobilisierungszyklus aufeinander folgen und in konflikthaft-kooperativer Arbeitsteilung zusammenwirken können. Die jeweiligen „Fundamentalisten“ – orthodoxe Linke, kompromisslose Pazifisten und reinrassige Umweltschützer – sind häufig marginalisiert worden, während andere Aktivisten eine „,realistische“ Wende vollzogen und sich den Konventionen der Parteiendemokratie unterordneten.
Dieses Spannungsverhältnis aktualisiert sich gerade im Gegensatz zwischen Mitte-links-Regierungen und außerparlamentarischen Globalisierungskritikern. Grob kann man eine „Regierungslinke“ von der „Bewegungslinken“ unterscheiden.
Wohl kein europäischer Regierungschef hat die Tobin-Steuer, mit der Kritiker die Globalisierung domestizieren wollen, so wohlwollend begleitet wie Lionel Jospin; unter seiner Ägide fand die Tobin-Steuer Eingang in die parlamentarischen Beratungen. Während Tony Blair sich im Sommer 2001 über die Chaoten von Genua echauffierte, begrüßte Jospin den (friedlichen) Straßenprotest als Vorschein einer weltbürgerlichen Bewegung und Ausdruck des Willens der Mehrheit der Menschheit, die Früchte der Globalisierung gerechter zu teilen.
Dies ist dem Sozialisten nicht gedankt worden: Im Frühjahr 2002 nahmen ihm mehrere linksradikale Präsidentschaftskandidaten so viele Stimmen ab, dass er im zweiten Wahlgang gegen Jacques Chirac nicht antreten konnte. Gegen den an seiner Stelle angetretenen Jean-Marie Le Pen lehnte sich die radikale Linke in erschrockenen Demonstrationen auf, aber seither ist von ihr nicht mehr viel zu hören. Die Sozialisten verloren die anschließenden Parlamentswahlen (1); Chirac herrscht mit einer komfortablen Majorität, wie sie selbst Charles de Gaulle nicht vergönnt war.
So kann es gehen: Man wollte das „gesamte rote Farbspektrum“ aufleuchten lassen – und bekam stattdessen Le Pen vs. Chirac. Heute sitzt „la droite pure et dure“ fest im Sattel, von der Tobin-Steuer ist keine Rede mehr. Die Linke hat den elektoralen Erdrutsch wie ein Naturereignis und ohne große Selbstkritik zur Kenntnis genommen, obwohl doch vor allem der Maximalismus dreier trotzkistischer Bewerber um das höchste Amt Jospin (ironischerweise selbst ein Ex-Trotzkist) zum Straucheln brachte.
Nicht viel anders war es bei der Präsidentschaftswahl in den USA. Auch Al Gore fehlten gegenüber George W. Bush weniger Stimmen, als sie Ralph Nader, der Kandidat der Grünen und Favorit vieler Globalisierungskritiker, auf sich vereinigen konnte. Gewiss: Al Gore hätte ebenso wenig „linke“ Politik gemacht wie Bill Clinton (und nebenbei gesagt Ralph Nader). Doch seine Umweltpolitik hätte sich unterschieden, und auf internationaler Ebene – von den Klimakonferenzen bis zum Internationalen Strafgerichtshof – wären die USA wohl nicht mit solcher Wucht als Bremser aufgetreten.
Im Herbst 2002 sind so gut wie alle Mitte-links-Regierungen abgewählt, nachdem man noch 1998 ein neues sozialdemokratisches Jahrzehnt heraufziehen sah. Die zwischen Paris und Washington unterschiedlich ausgeprägte, aber stets um einen „Dritten Weg“ zwischen steriler Sozialstaatsverteidigung und Neoliberalismus bemühte „,linke Mitte“ droht zwischen der ultraliberalen und der protektionistischen Rechten aufgerieben zu werden. (2) Übrig bleibt Tony Blair, geschützt vor allem durch das Mehrheitswahlrecht.
Unverkennbaren Anteil daran hatte die „Bewegungslinke“, die sich enttäuscht von der „Regierungslinken“ abwandte. Weil sie dort zu viel Entstaatlichung und Deregulierungsprogramm sah, konnten sich viele Mitglieder sozialer Bewegungen nicht mehr zur Wahl des „kleineren Übels“ durchringen. Dies droht auch mit Blick auf den 22. September.
Hier rächt sich die Funkstille, die lange zwischen Bewegungs- und Regierungslinken herrschte. Die Signale von umwelt-, frauen und entwicklungspolitischen NGOs kamen bei Grünen und SPD nicht mehr an, obwohl sich die älteren Aktivisten durchaus noch kennen und teilweise übereinstimmende Ziele verkünden. Die in ihrer gouvernementalen Rolle überkompensierende linke Mitte überhörte die Botschaft der transnationalen Protestbewegung; nach Göteborg und Genua war vom deutschen Außenminister Fischer eine schroffe Distanzierung zu hören. Auch beim Weltsozialforum in Porto Alegre im Januar 2002 ließ sich kaum ein Regierungspolitiker der linken Mitte blicken – während die Präsenz des Bundeskanzlers beim gleichzeitigen World Economic Forum im New Yorker Waldorf-Astoria-Hotel unübersehbar war.
Das ändert sich derzeit. Die Kommentare führender Sozialdemokraten zur Globalisierung sind mittlerweile erheblich kritischer geworden (3) und summieren sich zu einem vagen „deutschen Weg“. Auch ist im Bezug auf die mögliche Irak-Intervention der USA die „uneingeschränkte Solidarität“ rhetorisch aufgekündigt worden. Und Fischer lobt Attac. Doch damit ist der Graben für die meisten Globalisierungskritiker nicht überwunden, mehr noch: Viele zeigen sich an dem, was Sozialdemokraten und Grüne veranstalten, nicht mehr im Entferntesten interessiert.
Offenbar sind hier Traditionen einer politischen Sozialisation abgerissen, die die Linke besonders stark tangieren, aber das Parteiwesen und die Interessenvertretungen als Ganzes treffen dürften. Der Unterschied zu den 60er- und 70er-Jahren liegt auf der Hand: Damals fungierte die SPD als Transmissionsriemen zwischen sozialer Bewegung und Parteiendemokratie. Und als die SPD in der Ära Schmidt in den Spagat zwischen Arbeitnehmerinteressen und so genannten Postmaterialisten, zwischen pazifistischer Grundstimmung und sicherheitspolitischen Bündniszwängen geriet, stand links von ihr in Gestalt der Grünen ein Auffangbecken bereit. Trotz der ursprünglichen Stilisierung zur Anti-Partei sozialisierten die Grünen zigtausend junger Menschen in das politische System hinein.
Im vergangenen Jahrzehnt ist diese Rekrutierungskette im Mobilisierungszyklus fast abgebrochen, weithin herrscht wechselseitige Ignoranz. Bewegungen und Parteien reden aneinander vorbei. So antwortete das grüne Establishment auf den pathetischen Antiamerikanismus der im Herbst 2001 neu aufgestellten Friedensbewegung mit Amerikaphilie. Völlig berechtigte Kritik am amerikanischen Unilateralismus überdeckte Rot-Grün mit diplomatischen Formelkompromissen.
Dabei liegen die Positionen der –mehrheitlich moderaten – Globalisierungskritiker und der Bundesregierung nicht so stark auseinander, wie es den Anschein hat: Beide argumentierten, man müsse jenseits der unmittelbaren Gefahrenabwehr dem Terrorismus den „Nährboden entziehen“ und dazu eine entsprechende Außen- und Entwick- lungspolitik auflegen, und beide befürworten statt einseitiger Maßnahmen der USA gegen die „Achse des Bösen“ eine Friedenskonferenz im Mittleren Osten nach dem Vorbild der KSZE. Die Themen der „alten“ und „neuen“ neuen sozialen Bewegungen sind weitgehend identisch; neu ist, dass sie heute den nationalstaatlichen Politikrahmen sprengen und stärker unter ressortübergreifenden Ansätzen wie „Nachhaltigkeit“ verfolgt werden.
Sieht man von den „Autonomen“ ab, gehört die Bewegungslinke in Gestalt eines ausgefächerten Netzwerkes internationaler NGOs heute insgesamt weit stärker zum politischen Establishment, als dies für die außerparlamentarischen Oppositionen der Jahre 1965–1985 galt.
Was Linksparteien und Protestbewegung trennt, dürfte ein existenzialistisches Motiv sein, das hier und da zu einer mystischen Verklärung der Ursprünge von Arbeiterbewegung und neuen sozialen Bewegungen geführt hat, bisweilen unter Einschluss ihrer terroristischen Exzesse. [](4)
So kam es zu der bizarren Konstellation, dass sich ausgerechnet die Anhänger einer friedlichen „anderen Welt“ die militanten Ursprünge der realpolitisch gewordenen Barrikaden-Generation zum Vorbild erkoren und sie den „Renegaten“ vorhalten. In der Mediengesellschaft kommen solche Narrative (ein prügelnder Außenminister in spe) besonders gut an. Diese Entfremdung von der parlamentarischen Linken verbindet sich mit einer seit langem wirksamen Tendenz der Distanzierung von der etablierten Politik insgesamt. (5)
Doch das Bild ist differenzierter. Mehr denn je in der deutschen Geschichte bejahen junge Menschen die Demokratie – misstrauen aber den herkömmlichen politischen Organisationen. Stattdessen setzen sie auf informelle Gruppierungen und punktuelle Beteiligung, bevorzugen Demonstrationen und Unterschriftensammlungen – also genau das, was mit „Seattle“ und „Genua“, Greenpeace und Attac assoziiert werden kann. Die vorherrschenden Organisationsformate sind informell und ephemer, während die aus der Arbeitsgesellschaft überkommenen politischen Interessenvertretungen an rasanter Auszehrung leiden.
Als „Entpolitisierung“ kann man das alles nicht klassifizieren. Während Ältere in Talkshows und von Podien herab müde über die angebliche Beteiligungsmüdigkeit der Jugend räsonieren und dabei oft nur Verhaltensmuster der Flakhelfer- oder der 68er-Generation absolut setzen, die seinerzeit in Parteien und Bürgerinitiativen führten, arbeiten junge Menschen in einer nie gekannten Vielfalt von Initiativen an konkreten Alternativen: für einen fairen Welthandel, für nachhaltige Entwicklung, für kulturelle Diversität und Gleichstellung der Geschlechter. In diesen als „jugendlich“ (punktuell und situativ) bezeichnete Mobilisierungsformen darf man wohl, neben ressentimentgeladenen Populismus, ein bedeutsames Muster politischen Engagements im 21. Jahrhundert erkennen.
An dieser Bewegung gibt es nichts zu idealisieren. Sie leidet an ihren radikalen Rändern unter einem ungeklärten Verhältnis zur Straßengewalt, in ihr kommen, ebenfalls an den Rändern, links- und rechtsradikale Vermächtnisse zum Vorschein. Auch ist sie als Bewegung ohne (feste) Mitglieder vor allem auf Resonanz in den elektronischen Medien angewiesen und oft in der von ihnen bestimmten Ökonomie der Aufmerksamkeit befangen.
Für die kommenden Jahre muss man sich wohl auf rechte Regierungskoalitionen einstellen. Eine bittere Ironie: Ausgerechnet in dem historischen Augenblick, in dem der globale Kapitalismus erheblich an Legitimität verliert und eine Kontrolle des schrankenlosen Freihandels (nach Art der Tobin-Steuer) aussichtsreicher geworden ist, werden die möglichen Träger einer Repolitisierung serienweise abgewählt. (6)
Es gibt nun Autoren, die im Niedergang der Sozialdemokratie einen Sieg der Bewegungslinken erblicken: „Nirgendwo sonst in Europa hat es nach dem Scheitern einer linken Sozialdemokratie so wirkungsvolle Protestaktionen gegeben wie in Italien. Diese Erfahrung gibt uns die Gewissheit, dass das Netzwerk der Multitude keine Sozialdemokratie mehr braucht, um zu kämpfen und die Welt zu verändern“ (7), schreibt der „neue Theoretiker“ Antonio Negri – der sein altes Ziel, die Vernichtung der reformistischen Linken, nicht aufgegeben hat.
Dabei geht es gerade um das Gegenteil: Regierungs- und Bewegungslinke dürfen sich nicht weiter aus den Augen verlieren. Denn wer, wenn nicht Parteien und Interessenverbände, soll am Ende den gesellschaftlichen Willen bündeln, um politische Entscheidungen durchzusetzen? Wer, wenn nicht sie, kann auch den NGOs die fehlende repräsentativ-demokratische Legitimation verleihen und ihre Forderungen gegenüber mächtigeren gesellschaftlichen Gruppen durchsetzen? Es wird der Zeitpunkt kommen, an dem sich auch jugendliche politische Akteure, anders als der linksradikale Guru, auf die Tugenden von Mitgliedschaft und nachhaltiger Organisation besinnen. Anzeichen dafür sind erkennbar, wenn etwa Attac und die Gewerkschaftsjugend von Ver.di und IG Metall gegen die radikale Privatisierung des Gesundheitswesens zusammenwirken. Die Einverleibung der Bewegung ist damit nicht notwendig verbunden.
Statt also über das Anti-Kriegs-Thema die Verparteilichung der sozialen Bewegungen zu betreiben, wie dies manche Globalisierungskritiker im Sinn haben, müssen sich die Parteien der linken Mitte bewegungsartiger und als Netzwerke mit flacheren Hierarchien rekonstituieren – und genau das ist bei den meisten unter den Bedingungen „postmodernen Politik“ längst der Fall. (8)
Ein stärker arbeitsteiliges Verhältnis ist also geboten: Der Beitrag der Bewegungen besteht vor allem im Agenda- Setting, in Mobilisierung und Bereitstellung fachlicher Expertise, während Parteien in der Demokratie ihre klassischen Funktionen der Aggregation und Legitimation von Interessen ausspielen können. Die schlechtere Alternative ist, dass sich Regierungs- und Bewegungslinke in eine verschärfte Konfrontation begeben – um am Ende beide im politischen Abseits zu stehen.
Der Aufsatz erscheint hier in gekürzter Form. In ganzer Länge ist der Text im Septemberheft der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ abgedruckt.
Fotohinweis: CLAUS LEGGEWIE, 51, ist seit 1989 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Gießen. Im Jahr 2000 erschien von ihm: „Amerikas Welt. Die USA in unseren Köpfen“ (Hoffmann & Campe). Im vorigen Jahr gab er zusammen mit Richard Münch den Band „Politik im 21. Jahrhundert“ (suhrkamp) heraus. FOTO: ARCHIV
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