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Krieg und Friedrichshain

Mit ihrer Drohung, beim Verwaltungsgericht zu klagen, hat die Anwohnerinitiative „Die Aufgweckten“ bewirkt, dass um 10 Uhr Sperrstunde ist im Boxhagener Kiez. Aus Angst vor Repressalien scheuen die Mitglieder die Öffentlichkeit. Nicht ohne Grund

Einige von den „Aufgeweckten“ sind Stammgäste in den Kneipen„Ich verstehe mein Engagement bei der Initiative auch als Kapitalismuskritik“

von SIMON JÄGGI

Wenn der alte Tigerkater stirbt, wird sie wegziehen. Karin Müller steht in ihrer Hinterhofwohnung und weißelt den Fenstersturz. Ob der frische Anstrich noch lohnt, mag sie sich nicht fragen: „Ick wes ja nich, wie lange es die Kleene noch macht, wa?“ In der Kopernikusstraße ist sie geboren, ein halbes Jahrhundert hat sie im Boxhagener Kiez gelebt. Hier wollte sie sterben. „Dat hab ick aufjegeben“, sagt die ergraute Frau in bitterem Ton, ohne den Blick abzuwenden von der Pinselführung. Der Müll, die Fliegen, die Haustür von Stühlen versperrt – Karin Müller gehört zu den Anwohnern, die sich nicht mehr wehren.

Die Sonne brennt über der Simon-Dach-Straße. Menschen jeglicher Couleur sitzen vor perlenden Beck’s-Flaschen. Unbekümmert und ohne Wissen, was sich in diesen Sommertagen hinter der Idylle abspielt. „Kneipenkrieg“ titelten die Berliner Gazetten. „Die Aufgeweckten“, eine Anwohnerinitiative, hat dem Bezirksamt mit Klage gedroht. Deshalb müssen die Wirte nun um 10 Uhr die Stühle von den Gehsteigen geräumt haben. „Der Krieg äußert sich in Schriftform“, sagt eine Wirtin. Die vielen Gesichter hinter der Initiative kennt keiner. Die Wirtin steht in der Tür und mustert die Passanten. Jeder könnte dabei sein.

Konspirativ wirkt das Treffen in der Küche. Die Initiatoren der „Aufgeweckten“, Martina Schneider und Klaus Ritter (Namen geändert), offenbaren ihre Gesichter zum ersten Mal einem Journalisten. Lange Telefonate gingen dem Gespräch voraus. „Aus Angst vor Repressalien“, begründet Martina Schneider ihre Öffentlichkeitsscheu. Die Schlösser ihres Briefkastens wurden schon verklebt, in den Keller wurde gepinkelt. „Die Wirte debattierten sogar, ob sie den Konflikt personalisieren sollen“, ärgert sich Schneider. Die Industrie- und Handelskammer, die sich im Konflikt für die Kneipen engagiert, habe den Wirten angeboten, Adressen der kämpferischen Anwohner ausfindig zu machen. Eine Horrorvorstellung für die Initiative. Einige von ihnen sind Stammgäste in den Kneipen.

Ein Anwohner habe sich vor zwei Jahren vor laufender Fernsehkamera zum damals schon schwelenden Konflikt geäußert, erzählen sie. Zwei Tage später sei der blinde Mann auf offener Straße angepöbelt worden. Er ist weggezogen. „Wir wollen hier weiterhin in Frieden leben können.“ Ritters dunkel timbrierte Stimme wird beinahe piepsig. Er zieht an einer Selbstgedrehten – der Typ Langzeitstudent.

120 Anwohner unterstützen die Gruppe finanziell oder mit kleinen Hilfeleistungen. Der harte Kern der „Aufgeweckten“ besteht aus 15 Mitgliedern. Einer kümmert sich um die Presse, ein anderer um die Ämter. „Wir telefonieren täglich untereinander“, so Ritter. Es sei ein gutes Gruppengefühl gewachsen, sind sie sich einig, man wolle sich nach der Lärmsache auch weiterhin der Kiezentwicklung widmen. Früher mühten sie sich als Einzelkämpfer gegen die Mühlen der Behörde. Ritter: „Ich fragte mich, ob nun ich oder der Kiez spinnt.“ Vereinigt haben sie sich im März dieses Jahres, im Juni ging ihre Homepage ins Netz (www.kneipenlaerm.de). Die Seite dokumentiert eine aufwändige Recherche: genaue Zahlenangaben zu Straßensitzplätzen im gesamten Kiez, ihre Forderungen und die Geschichte des sich wandelnden Viertels.

Die Anwohner haben sich gewappnet. Ein Anwalt steht der Initiative bei rechtlichen Fragen zur Seite und vertritt sie in der Öffentlichkeit. Die 2.000 Euro Anwaltskosten trägt die ganze Gruppe. „Wir sind ziemlich fit“, konstatiert Schneider zufrieden und lächelt Ritter zu. Sie hält einen dicken Ordner in der Hand. Energisch blättert sie nach ihren Beschwerdepapieren, sie weiß genau, wann sie was geschrieben hat. In ihrem schicken schwarzen Kleid könnte sie eine erfolgreiche Geschäftsfrau sein, eine Wirtin vielleicht. Die beiden sind ein ungleiches Duo: eine Zweckgemeinschaft in einer feindlichen Umgebung.

Wieso nicht einfach wegziehen? Warum dieser Aufwand? „Leidensdruck und Gerechtigkeitssinn“, sagt Schneider. Selbst mit Ohrstöpseln wache er in der Nacht auf, klagt Ritter. Einen Parkplatz zu finden dauere eine Dreiviertelstunde. Beide erzählen von den Leiden eines Anwohners, führen so viele Beispiele auf, dass sie sich in Lappalien verlieren. Doch dann fällt ein wichtiger Satz: „Es geht nicht primär um den Lärm“, sagt Ritter. Der Kampf gegen den Lärm sei nur Mittel zum Zweck, eine rechtlich wirksame Waffe gegen den Wandel im Kiez.

Die Mehrzahl der „Aufgeweckten“ sind Alteingesessene, die nicht als Kollateralopfer der Kneipenmeile weichen wollen. Ritter wohnt seit 6 Jahren hier, Schneider seit 16. Sie sahen, wie der Fleischer verschwand, wie Haus um Haus renoviert wurde und wie die Mieten stiegen. Der Schleifmaschinenverleih wirkt heute wie ein Fremdkörper in der bacchantischen Kulisse der Simon-Dach-Straße. Allein hier bedienen 27 Schenken 1.200 Plätze auf den Gehsteigen. Das Gros der Gäste sind Touristen und Berliner aus anderen Bezirken.

Vor ein paar Tagen habe sie wieder den schwarzen BMW mit den zwei Männern mit Sonnenbrille gesehen, berichtet Schneider. Die Männer hätten mit dem Besitzer einer Werkstatt verhandelt. „Was passiert, wenn der BMW aufkreuzt, wissen wir schon.“ Bald wird ein weiteres Lokal eröffnen. „Die Kneipen unterscheiden sich nicht und gehören einigen wenigen Wirten. Der Kiez hat sich zur Monokultur ohne Flair entwickelt“, ist Ritter genervt. Deshalb ist es denn „Aufgeweckten“ auch gleich, ob einige Kneipen wegen der vorgezogenen Sperrstunde eingehen. „Ich verstehe mein Engagement für die Initiative auch als Kapitalismuskritik“, sagt Ritter, „wir sind eine linke Bürgerinitiative.“

Zu DDR-Zeiten war der Boxhagener Kiez proletarisch geprägt. An einer Hauswand steht: „Yuppie, go home!“ Ich will hier keinen zweiten Prenzlauer Berg, frotzelt ein Student auf der Straße. Die Fluktuation in den Wohnungen im Kiez ist hoch. Viele Junge ziehen des pulsierenden Lebens der Simon-Dach-Straße wegen hierher. Die „Aufgeweckten“ sind sich bewusst, dass sie solchen Anwohnern keine Freude gemacht haben, jetzt, wo die Kneipen draußen um halb zehn letzte Runde machen, weil sie dem Bezirksamt mit Klage drohten. „Auf unserer neuen Website werden auch solche Stimmen eine Plattform bekommen“, versichert Ritter. Kampfeslust strahlen die „Aufgeweckten“ nicht aus. Martina Schneider hat sich vor ein paar Tagen mit dem Sprecher der Wirte, Michael Näckel, zum Kaffee getroffen. „Sie verstehen unsere Probleme, wir ihre.“ Frieden in Friedrichshain? Wohl nicht, die Wirte haben angekündigt, gegen die neue Regelung vor dem Verwaltungsgericht zu klagen.

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