Der Krieg, der Terror und der Terrorkrieg

Wie sich die Definition des bewaffneten Konflikts seit dem Deutschen Herbst 1977 verschoben hat

… imaginieren heute die USA ein weltweites Terrornetz mit Bin Laden im Zentrum

von CHRISTIAN SEMLER

Fünf Jahre vor der Selbstauflösung der RAF, im Oktober 1993, beantragte die Anwältin von Rolf-Clemens Wagner, das Verfahren gegen ihren Mandanten einzustellen, da es mit dem Völkerrecht unvereinbar sei. „Das staatliche Vorgehen gegen Gefangene aus der RAF, so hieß es in dem damaligen Antrag, „muss als international koordiniertes Vorgehen von Nato und Europastaaten unter der Führung der USA und der BRD gesehen werden und gleichzeitig als Bestandteil des Kriegskonzepts. Dieses Kriegskonzept muss sich aber auch messen lassen am Kriegsvölkerrecht und kann nicht einseitig bestimmt werden.“ In die öffentliche Diskussion, so die Anwältin weiter, „sollte die seit 1977 verdrängte Frage rücken: Inwieweit können innerstaatliche, bewaffnete Konflikte, Guerillagruppen, völkerrechtlichen Schutz beanspruchen?“

Diese Frage hatte der Staatsrechtler Axel Azzola, Verteidiger von Ulrike Meinhof, bereits 1976 im Stammheimer Verfahren aufgeworfen und beantwortet: Die Angeklagten befänden sich im Kriegszustand. Der Krieg, den sie führten, sähe auf der einen Seite „den Imperialismus des internationalen Kapitals und seiner Agenten“ und auf der anderen „die den proletarischen Internationalismus praktizierenden Befreiungsbewegungen“. Weil dies so sei, müssten sie deshalb gemäß den Regeln der Genfer Konvention als Kriegsgefangene behandelt werden.

Eine reichlich absurde Konstruktion, denn weder praktizierten die Befreiungsbewegungen „proletarischen Internationalismus, geschweige denn, dass sie als ein Völkerrechtssubjekt anzusehen gewesen wären. Noch existierte ein internationales Kapital. Aber 1976 wie 1993 ging es den Angeklagten darum, einer entpolitisierenden Prozessführung durch die Gerichte ihre Existenz als politisch Handelnde entgegenzusetzen. Für die Justiz wie für große Teile der Öffentlichkeit war die „Baader-Meinhof-Bande“ schlicht eine kriminelle Organisation. Die politische Motivation ihrer Taten sollte möglichst ausgeblendet werden.

Subjektiv fühlten sich die Mitglieder der RAF als Bestandteil einer kämpfenden internationalen Einheitsfront gegen den Imperialismus. Wie die gesamte radikale Linke glaubte sich die RAF im weltweiten revolutionären Aufwind. Aber im Unterschied zur „legalen“ Linken war sie der Meinung, nur der Aufbau einer bewaffneten Macht, der Stadtguerilla, könne die Ausgebeuteten in der Bundesrepublik aus ihrer Ohnmacht befreien. Diese Guerilla sollte die Keimzelle des verallgemeinerten bewaffneten Kampfes in den Metropolen werden. Daher die perspektivische, Mao entlehnte Parole: Sieg im Volkskrieg!

Was damals schon leicht erkennbar war und auch von vielen der radikalen Linken erkannt wurde: Diese Einschätzungen beruhten auf einer Fehlwahrnehmung der nationalen Befreiungsbewegungen wie der Entwicklung der „eigenen“ kapitalistischen Gesellschaften und ihrer demokratischen Institutionen. Die krasse Selbstüberschätzung allerdings teilte die RAF wiederum mit der radikalen Linken. Als sie auf ihrem Kombattantenstatus vor Gericht beharrte, handelte sie deshalb nicht nur taktisch, sondern entsprechend ihrem politischen Selbstbild.

25 Jahre nach Stammheim haben sich die Fronten seltsam verkehrt. Damals galt der Kampf gegen den Terrorismus aufseiten des Staates ausschließlich als Verbrecherjagd, die allerdings – durch die Zusammenarbeit von Polizei und Geheimdiensten – international organisiert werden müsse. Nach dem Massenmord des 11. September aber erklärte Bush, seine Nation befinde sich im Kriegszustand und es gelte, den internationalen Terrorismus in einem langwierigen, weltweit zu führenden Krieg auszurotten. Dass dies nicht nur ein auf die innenpoliischen Verhältnisse der USA gemünztes Bild war, zeigt die Reaktion der europäischen Nato-Partner, die prompt den Bündnisfall erklärten.

Während die RAF sich den weltweiten Zusammenschluss der bewaffneten Befreiungsbewegungen imaginierte, ja ihn sogar schon für gelungen hielt, imaginieren heute die Regierungsverantwortlichen in den USA ein weltweit operierendes Terrornetz mit Bin Laden in seinem Zentrum. Beide Vorstellungen waren und sind wahnhaft, haben aber höchst unterschiedliche praktische politische Konsequenzen, was mit der jeweiligen Stärke beider Protagonisten zusammenhängt.

Während die RAF den Zusammenschluss der Befreiungsbewegun-gen imaginierte …

Bushs Doktrin vom langwierigen Krieg löst endgültig die überkommene Vorstellung des Krieges und seiner Spielregeln auf. Der Vietnamkrieg war zwar von den USA nicht mehr erklärt worden, aber die amerikanische Intervention fand doch noch mit einem völkerrechtlichen Akt, dem Vertrag von Paris, ihr Ende. Wo der Krieg nicht mehr Fortsetzung der Politik unter Einsatz militärischer Mittel ist, kann er sich auch nicht in neuer Politik fortsetzen. Kriegsziele werden nicht mehr definiert. Die Grenzen verschwimmen. Und mit ihnen verschwimmen kriegsrechtliche Einschränkungen, werden die Garantien des humanitären Völkerrechts beseitigt.

Was ist der Status der Gefangenen, der „Käfigmenschen“ von Guantánamo? Weder gelten für sie die Verfassungsgarantien des „due process of law“, wie ein amerikanisches Bundesgericht im Juli dieses Jahres feststellte, noch stehen sie unter dem Schutz der Genfer Konventionen, die die Behandlung von Kriegsgefangenen oder Kriegsgefangenen Gleichgestellten regelt. Sie genießen nicht einmal die Rechte, die die auch für die USA bindenden UNO-Menschenrechtspakte jedem Gefangenen unabhängig von seiner Nationalität zubilligen.

In ihren Propagandaschriften vor und nach 1977 hatte die RAF bewaffnete Aktionen einschließlich ihrer Mordtaten damit gerechtfertigt, dass es der Kapitalismus selbst sei, der gewaltsam gegen „die Massen“ vorgehe, weil er seine Legitimationsbasis zunehmend verliere. Aus diesem Grund erweise es sich als ebenso naiv wie vergeblich, auf die Verteidigung der demokratischen Institutionen und auf rechtsstaatskonforme Aktionen zu setzen. Und dennoch: Indem die Angeklagten der RAF auf ihrem Kombattanten-Status beharrten, erkannten sie indirekt an, dass es so etwas wie eine zivilisierende Wirkung von Rechtsbeziehungen auch angesichts bewaffneter Konflikte geben kann und muss. Diese Anerkennung wurde allerdings unter der triumphalistischen Rhetorik der Offensive begraben.

Angesichts der konzentrierten Angriffe der gegenwärtigen Regierung der USA auf die Grundlagen des Völkerrechts wäre nichts falscher, als erneut in die Falle zu tappen, in der sich schon die RAF verfing. Es existiert kein Automatismus, keine vorgebliche innere Logik, der die Supermacht USA dazu antreibt, jeden Ansatz zu einer Weltrechtsordnung zu untergraben. Nach wie vor existieren starke Kräfte, die sich für die Stärkung der UNO, für internationale Regime, für eine effektive Menschenrechtspolitik einsetzen – auch in den USA. Mit ihnen gilt es sich zusammenzuschließen.