: Vollversammlung
Nach 22 Jahren: Ein Gespräch über Basisdemokratie, Wirtschaftlichkeit und den Trend zu „mehr Dirigent“
Albert Schmitt kam 1987 als Kontrabassist zur Kammerphilharmonie, seit drei Jahren ist er ausschließlich als Geschäftsführer des Orchesters tätig. Die Cellistin Ulrike Rüben gehört zu den vier noch aktiven Gründungsmitgliedern des Orchesters.
taz: Bei seiner Gründung war das Orchester basisdemokratisch organisiert. Was ist es jetzt?
Albert Schmitt: Demokratisch.
Ulrike Rüben: Stimmt.
Was ist also weggefallen, was hat sich verändert?
Ulrike Rüben: Jetzt kann nicht mehr jeder seinen Senf reinwerfen.
Albert Schmitt: Zumindest nicht mehr in dem Maße. Wir haben zum Beispiel kein Rotationsprinzip mehr. In der Anfangszeit war das eine wichtige Sache: Jeder, der Geige spielt, ist auch mal Konzertmeister. Jetzt sind die Stimmführerpositionen in den einzelnen Gruppen festgelegt. Aber es ist immer noch so, dass wir nicht erste und zweite Geigen haben, sondern zwei Gruppen, die sich in diesen Funktionen abwechseln.
Was sind die Vorteile der neuen Strukturen?
Albert Schmitt: Beim Orchester ist jetzt klarer, dass die wirtschaftlichen und Marketing-Entscheidungen hier im Büro fallen und nicht mehr in allen Einzelheiten in der Vollversammlung diskutiert werden.
Ulrike Rüben: Das ist sehr entlastend. Dadurch sind die Vollversammlungen nicht mehr endlos. Das war oft frustrierend.
Wer entscheidet heute über das Repertoire?
Ulrike Rüben: Wir haben einen Programm-Ausschuss, der Vorschläge machen kann. Dann ist natürlich die Frage, ob der Konzertveranstalter das haben möchte. Und die Dirigenten haben auch ihre Wünsche.
Albert Schmitt: Wir haben ein Artistic-Management, das für den Verkauf der Konzerte zuständig ist. Die kriegen die Rückmeldungen von den Veranstaltern, die vielleicht sagen: Tolles Programm, aber den Rihm, den brauchen wir nicht, macht mal lieber den Haydn.
Insgesamt haben Sie auf das Programm also weniger Einfluss als früher?
Albert Schmitt: Ja. Es ist ein bisschen weniger geworden, weil die Entscheidung gefallen ist, dass man das auch wirtschaftlich betrachten will, dass man auch davon leben will. Das war ja ganz am Anfang überhaupt nicht klar.
Ulrike Rüben: Da hatten wir auch nicht die großen Konzerte, da ging es nicht darum: Wir kaufen euch nur, wenn ihr das und das spielt. Wir haben eben gesucht, welcher Veranstalter will das Programm haben, das wir spielen wollen.
Wann hat sich das geändert?
Ulrike Rüben: Nach sechs Jahren. Also 1987, als wir in Frankfurt anfingen, Geld zu verdienen.
Albert Schmitt: Das war ein ganz kritischer Punkt, weil einige rausgegangen sind.
Ulrike Rüben: Es wurde dringend Zeit. Wir waren langsam fertig mit dem Studium und die Frage stand an: Gibt es jetzt Geld oder nicht? Gibt es eine Stadt, die uns will? Das war lange unklar.
Gab es auch die, die gerade wegen der Entscheidung für das Geldverdienen rausgegangen sind?
Albert Schmitt: Oh ja. Einer zum Beispiel sagte, dass ihm das zu kommerziell würde und er künstlerisch extremere Positionen habe.
Zum wirtschaftlichen Erfolg brauchen Sie ein starkes Management. Das steht den ursprünglichen Selbstverwaltungs-Ambitionen sicher entgegen.
Albert Schmitt: Ja, sogar in zweierlei Hinsicht. Einmal widerspricht es ein Stück weit dem Bedürfnis mitzureden und mitzugestalten. Wobei das von den meisten eher als Entlastung empfunden wird. Aber es ist auch ein nicht zu unterschätzender Konflikt in wirtschaftlicher Hinsicht: Jede Mark, die für Verwaltung aufgewendet wird, fehlt zur Entlohnung der Musiker. Aber man braucht diese Manpower natürlich. Das ist etwas, das man gegenüber dem Orchester immer wieder sehr wortreich vertreten muss.
Ulrike Rüben: Darüber gibt es ganz große Diskussionen.
Wo finden die statt?
Alber Schmitt: Wir haben nach wie vor alle zwei Monate Vollversammlung als höchstes Entscheidungsgremium für alle Belange. Auch für die künstlerischen. Nach jedem Projekt stellen wir uns da die Standardfragen: Wie war der Dirigent, der Solist, das Programm, wie waren die Veranstalter, wollen wir das wieder machen?
Anfangs haben Sie vieles bewusst ohne Dirigent gemacht, dann gab es „musikalische Leiter“. Seit 1995 ist Daniel Harding „musikalischen Direktor“. Geht der Trend zu „mehr Dirigent“ weiter?
Ulrike Rüben: Die ersten sechs Jahre waren wir ohne Chef, jetzt ist das nicht mehr vorstellbar.
Albert Schmitt: Die Befugnisse dieser Leiter haben sich zunehmend verändert. Der erste hatte die klare Aufgabe, ein bestimmtes Repertoire zu erarbeiten. Daniel Harding ist in seinem Anspruch, auch zu führen, schon ein anderer Typ als zum Beispiel Heinrich Schiff. Er erwartet eine deutlicher stärkere Unterordnung.
Ulrike Rüben: Das hängt auch mit unserem Repertoire zusammen. Brahms-Sinfonien sind ohne Dirigenten nicht denkbar.
Albert Schmitt: Bei uns „überleben“ die Dirigenten beziehungsweise werden wieder eingelanden, die es nicht als Affront empfinden, wenn jemand mitredet. Die Position „musikalischer Direktor“ zu diesem selbstbewussten Orchester ist ein ständiges Spannungsverhältnis. Es muss das Anliegen des Orchesters sein, die Balance zu erhalten.
Interview: Henning Bleyl
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