: Eine schrecklich aufgeräumte Familie
Von der Kunst, einen Hocker zu bewegen, ohne die Holzbeine dabei unnötig abzunutzen: Der Schweizer Schriftsteller Andreas Münzner schreibt in seinem Debüt „Die Höhe der Alpen“ über die Leiden einer durchnormierten Kindheit
Wenn man einmal die Vielzahl von den geistverstörenden Erlebnissen bedenkt, denen ein jugendliches Gehirn auf seinem Weg zur Ausbildung einer Persönlichkeit ausgesetzt ist, so scheint es bereits ein Wunder, wenn aus einer ganzen Generation auch nur eine Hand voll halbwegs stabiler Erwachsener hervorgeht. Der Protagonist und Erzähler von Andreas Münzners Debütroman „Die Höhe der Alpen“ steht sogar unter einem wahrhaft neurotischen Dauerfeuer, die er in seinem kindlichen Gemüt nach Kräften in die verquersten Richtungen umdeutet, und scheint somit ein zukünftiger Dauergast in der Psychiatrie zu sein. Das Buch ist ein ebenso unaufgeregter wie unbarmherziger Leidensbericht von den banal verzweifelten Jämmernissen einer Schweizer Kindheit, die vom dominanten Vater aus Deutschland wie mit einer Käseglocke luftdicht abgeschlossen wird.
Dieser Vater ist mit all jenen charakterlichen Defiziten ausgestattet, die seine grundsätzliche Langweiligkeit zulässt. Er ist bis zur Manie pedantisch, rechthaberisch und sparsam. Bleischwer liegt der Mief des Kleingeistes in den eidgenössischen Tälern. Mit bisweilen strapaziöser Gewissenhaftigkeit gewährt uns Münzner Einblick in das Denken des namenlos bleibenden Jungen. Kaum kann man sich vorstellen, wie es möglich sein soll, unter diesen Bedingungen Kindheit unbeschadet zu überstehen, zumal wenn Pop-Poster an einer speziell angebrachten Schiene aufgehängt werden müssen. Wer in solcher sozialen Sterilität aufwächst, tut sich natürlich im Zwischenmenschlichen auch nicht gerade leicht. Freund- oder gar Liebschaften kommen kaum über klägliche Ansätze hinaus.
Einen Hoffnungsschimmer bietet dem Jungen lediglich die Natur, die in der Schweiz ja bekanntlich direkt vor der Haustür liegt. Beim Eglifangen, Velofahren und Stromern können er und sein Bruder einen Teil ihrer totalen Domestikation ablegen, die sie zu Hause dazu bringt, einen Barhocker möglichst vertikal aufzuheben, damit es nicht zu Quietschgeräusch und unnötiger Abnutzung des Holzbeins kommt. Doch bleiben solche Ausflüge wie auch die beiden kurzen Ausreißversuche des Erzählers für seine geistige Entfaltung folgenlos.
Überhaupt scheint nichts im Roman wirkliche Konsequenzen zu haben. Erinnerungen an Ereignisse, Gespräche, Träume oder Gedankengänge werden aneinander gereiht, ohne Chronologie oder inhaltliche Zusammenhänge. Regelmäßig ergeben sich dabei kleine Meisterstücke der Beobachtungs- und Beschreibungskunst, aber eine Entwicklung von Buch oder Erzähler lassen sie kaum erkennen.
Manchmal färbt auch der väterliche Hang zur Umständlichkeit auf das Erzählen ab, etwa bei den protokollgenau wiedergegebenen Diskussionen zwischen Vater und Sohn um so weltbewegende Dinge wie die exakte Höhe der Alpen an einem bestimmten Ausflugsziel. Um die restriktive Sanitärhygiene im Elternhaus zu beschreiben, benötigt Münzner neben drei Tropfen Urin ein ganzes ausgedehntes Kapitel, in dem schließlich die gesamte Familie mit gesenktem Kopf den Familienthron umsteht, um sich „die Sauerei“ anzusehen.
So überrascht es am Ende den Leser, dass all das Geschilderte sich schließlich in seinen Konsequenzen als halb so wild entpuppt. Der gelegentliche ironische Bruch der ansonsten streng durchgehaltenen Kinderperspektive deutet darauf hin, dass der Erzähler das mit traumatischer Eindringlichkeit Geschilderte durchaus gut verarbeitet hat: So labil die Persönlichkeitsentwicklung bei Münzners Blick aufs Detail zu sein scheint, so stabil erweist sie sich in der Gesamtheit. Was uns in entwicklungspsychologischer Sicht vielleicht beruhigt – die relative Konsequenzlosigkeit so mancher pädagogischer Missgriffe und sozialer Traumatisierungen –, ist als Summe einer erheblichen Erzählanstrengung, wie sie „Die Höhe der Alpen“ darstellt, allerdings nicht ganz befriedigend.
SEBASTIAN DOMSCH
Andreas Münzner: „Die Höhe der Alpen“. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2002, 233 S., 17,90 €
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