: Pop goes Krisenstabslogik
Die Fernsehbilder von 9/11 waren eine Katharsis, ein Erweckungserlebnis: Nichts wird mehr so sein wie zuvor, hieß es. Manche nutzten die Twin-Towers-Bilder als Material für Ich-Inszenierungen. Anmerkungen zu Courtney Love, Mariah Carey, kathrin röggla, Bruce Springsteen und Neil Young
von KLAUS WALTER
Spätestens seit dem Selbstmord ihres Mannes Curt Cobain spielt Courtney Love in jener Liga des internationalen Jetset, die keine Grenze zwischen Realität und Fake mehr kennt. Da spielt es keine Rolle, ob Love wirklich gesagt hat, was ihr Tom „Borderline“ Kummer in den Mund gelegt hat: „Ich spiele nur mit meinen Brüsten, um Ekel zu demonstrieren.“ Den chirurgischen Umbau ihrer Brüste hat die Sänger-Schauspielerin ebenso zur öffentlichen Angelegenheit gemacht wie den Abschiedsbrief und Tagebücher ihres Ehemanns. Das Schöne an Love: Sie kennt die Spielregeln des Fake, sie hat sie sogar selbst formuliert in ihrem Song „Doll parts“: „My fake is so real I am beyond fake.“
9/11 als Sprechlizenz und Ego-Zeichen
Niemand käme auf die Idee, Love-News anzuzweifeln, weil niemand auf die Idee käme, Love-News beim Wort zu nehmen. Wie im Märchen und in der Heldensage transportieren Love-News tiefere Wahrheiten: „Die Sängerin Courtney Love (Hole) hat sich nach den Terrorangriffen vom 11. September bei der Marine zum Dienst beworben und eine Abfuhr erhalten. Sie wurde abgewiesen, weil sie zu alt ist und keinen Highschool-Abschluss besitzt. Um irgendetwas fürs Vaterland zu tun, griff sie zu ihren Aktien. Sie habe fast 500.000 Dollar verloren, sagte Love. Denn: ‚Ich habe ausländische Aktien gegen US-Wertpapiere wie Disney und General Motors eingetauscht.‘ Damit habe sie ein patriotisches Zeichen setzen wollen.“
Unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt enthält diese Meldung aus dem letzten Herbst zwei zentrale Motive der 9/11-Narration: 9/11 als Existenzbeweis und 9/11 als Sprechlizenz. Love nimmt 9/11 zum Anlass, sich zu Wort zu melden. Mit dem „patriotischen Zeichen“ setzt sie ein Ego-Zeichen, versichert sich (und uns) ihrer Existenz, bis hin zum Körpereinsatz beim Militär, der ihr dann doch verwehrt bleibt. Mariah Carey, wie Love im Karrieretal, lässt sich nach 9/11 bei der Truppenbetreuung fotografieren. Ein aufgeknöpfter Tarnanzug gibt den Soldatenblick auf den Busen frei.
Doll Parts stecken schon im Namen der Countrysängerin Dolly Parton. Partons prominentester Part ist ihr umfangreicher Busen, zuletzt gewürdigt in „Dolly Parton’s guitar“ einer Song-Zote von Lee Hazlewood. Parton erweitert die 9/11-Rhetorik um den Gottesbeweis: „Am Tag nach dem 11. September wurden mir einige Songs eingegeben. Einer hieß ‚Color me America‘, der nächste war ‚Hello God‘.“
Dass Frauenfiguren wie Love, Carey und Parton ihren Körper öffentlich einsetzen und fotografieren lassen, um sich ihrer Existenz beyond fake zu versichern, ist nichts Neues. Von Selbstzweifeln wurde auch die meistfotografierte Frau ihrer Epoche geplagt: „Ich habe insgeheim das Gefühl gehabt, nicht vollkommen echt zu sein, so etwas wie eine gut gemachte Fälschung“, sagte Marilyn Monroe kurz vor ihrem Tod. All die Fotos mit Operationsnarben und Fettröllchen konnten nichts daran ändern, „dass ich denke, ich sei im Grunde nur ein Kunstprodukt“. Ähnlich muss es Lolo Ferrari ergangen sein. In 22 Operationen ließ sie sich zur pornografischen Kunstfigur modellieren. Für die letzte Brustvergrößerung wurde ein Flugzeugingenieur zu Rate gezogen. Am Ende, sie starb mit 30, war ihr Mund so groß wie ein Busen, ihr Busen so groß wie zwei Fußbälle. Von Lolo Ferrari ist ein denkwürdiger Satz überliefert: „Ich will, dass man mich ansieht, sonst glaube ich nicht, dass es mich gibt.“
Jahrzehnte vor der Digitalisierung des Alltags schrieb Ray Davies einen Song über den fotografischen Existenzbeweis, später von den „Goldenen Zitronen“ ins Deutsche übertragen: „Menschen machen Fotos gegenseitig, um zu beweisen, dass sie wirklich existieren.“ Heute helfen WTC-Bilder, um zu beweisen, dass wir wirklich existieren.
Die Schriftstellerin kathrin röggla „musste 30 werden und den 11. september in new york erleben, um das gefühl zu haben: ich habe ein eigenes leben.“ Um sich der Eigenheit des eigenen Lebens zu vergewissern, besteht die Autorin auf Kleinschreibung. Und macht Fotos. 9/11 verhilft röggla zur plötzlichen Reife, zum unhintergehbaren Existenzbeweis und erteilt ihr die Lizenz zum Schreiben. Ihr „ground zero“ wird Deutschlands schnellstes 9/11-Buch. Mit dreißig fängt das Leben erst an, Ground Zero wird zur Stunde null, zum kollektiv(ierend)en kathartischen Erweckungserlebnis. Das „Nichts wird mehr so sein, wie es vorher war“-Mantra erhebt 9/11 in den Rang einer (Feuer-)Taufe, einer Initiation. Wer diese Taufe nicht erlebt (röggla), wer nicht durch die Katharsis geht, der bleibt zurück im heidnischen (materialistischen) Unglauben, verharrt in den Kategorien des alten Jahrtausends. Nicht wie vorher: Real, beyond fake und in Echtzeit schlägt das zweite Flugzeug in den Turm ein, auf den Fernsehschirmen. Ausgerechnet durch den Fernseher bricht Realität ein, der sie uns doch sonst vom Leib hält, eigentlich.
Der „Schirmfunktion des Fernsehens“ habe der Anschlag gegolten, wendet Klaus Theweleit gegen die flottierenden 9/11-Baudrillardismen ein: „Was Immunisierungsbilder waren, ist umgeschlagen in Infektionsbilder, wir haben uns infiziert mit dem Virus ‚Ihr seid tötbar‘ “, so Theweleit im Rheinischen Merkur. Tötbar aber ist nur, wer sich im Besitz eines eigenen Lebens weiß. Wie das Kleinkind im Lacan’schen Spiegelstadium, das beim Anblick seines Spiegelbildes in Jubel ausbricht. Das Spiegelbild wird zur trügerischen Matrix eines Gefühls von Einheit und Dauerhaftigkeit, das seine tatsächliche Abhängigkeit von der Mutter ihm versagt. Im Spiegel der Türme fügen sich Subjekt-Fragmente zusammen zu einem identischen Bild, zum endlich eigenen, einsatzbereiten Leben.
Stimulation und Simulation
Als wollten sie die Menschenverluste auf der Stelle ausgleichen, leisten viele Amerikaner Trauerarbeit unter Einsatz ihrer Körper. Im Frühjahr verzeichnen US-Kliniken einen Babyboom. „Zwischen 30 und 50 Prozent mehr Schwangere als ein Jahr zuvor“ melden Ärzte „aus New York, Wisconsin und South Carolina.“ Werdende Mütter, röggla und Love sind freilich Ausnahmen. Nach 9/11 sprechen vor allem Männer über 9/11 und über Männer, die 9/11 zu 9/11 gemacht haben. Attentäter, Feuerwehrmänner, Polizisten, Piloten, Statiker, Pyrotechniker, Katastrophenschützer, Geheimdienstler, Höhlenforscher. Politiker.
Ist die Vermännlichung der öffentlichen Rede wie die Renaissance der militärischen Logik ein Kollateralschaden von 9/11? Die Welle von Kriegsfilmen, die im Herbst über uns hereinbricht? Alle vorher gedreht. Die Renaturalisierung des Sozialen, die Remoralisierung der Gesellschaft – lag das nicht schon in der Luft?
„Der Umbau der Gegenwart zum Ausnahmezustand“ war längst im Gang, behaupten Tom Holert und Mark Terkessidis in ihrem Buch „Entsichert – Krieg als Massenkultur im 21. Jahrhundert“. Zur Durchsetzung von Kriegs- und Sicherheitsparadigmen kam 9/11 wie gerufen: „Globaler Einberufungsbescheid“ nennen die Autoren diese psychische Generalmobilmachung.
In Deutschland 2002 wird die Kampfzone ausgedehnt: Schlammschlachten von Literaturveteranen, ein Marine-Roman, dazu ein Amoklauf und eine Sintflut. „Wie im Krieg“, titelt der Spiegel und bildet männliche Spitzenpolitiker im Combat-Chic ab, Flutkämpfer flankiert von Soldaten, THWlern, Feuerwehrmännern und Freiwilligen. In der Krise, ob Flutkatastrophe, Flugzeugentführung, Abstiegskampf oder Tarifkonflikt, besinnt man sich des Routiniers, Altherrenspieler und Elder Statesmen werden reaktiviert.
Diese Krisenstabslogik greift auch im Pop. Neil Young schreibt ein Heldenepos auf Todd Beamer, der das vierte entführte Flugzeug in Pennsylvania zum Absturz brachte. „Let’s roll“, Beamers call to arms, avanciert zum Schlachtruf der nationalen Selbstermächtigung. Zum Jahrestag bedient die krisengeschüttelte Musikindustrie den Markt mit 9/11-Memorabilia, das neue Springsteen-Album wird zum Bestseller. Den Titel „The Rising“ darf man biblisch verstehen: die Auferstehung. Eigentlich sind es mehrere Auferstehungen: die eigene, sein erstes Album im neuen Jahrtausend, die Auferstehung der E-Street Band, erstmals nach 18 Jahren, schließlich die beschworene Auferstehung der Opfer von 9/11. Wie Springsteen sucht Paul McCartney die Nähe zum Fall der Türme und profitiert von der Fallhöhe der Ereignisse. Sein Flugzeug habe gerade New York verlassen, als er mit Frau Heather das Desaster von oben gesehen habe, dann habe er gleich den Song „Freedom“ schreiben müssen. Prompt wird der Ex- Beatle zum Ehren-Cop von N.Y. geschlagen.
9/11 als Überschreibung des Putsches in Chile
Während Hillary Clinton, immerhin Senatorin des Staates New York, nahezu unsichtbar bleibt, wird der Bürgermeister zum 9/11-Winner. Rudolph Giuliani trübt die Erinnerung an Carlo Giuliani, 9/11, 2001 NYC trübt die Erinnerung an 9/11, 1973 Santiago de Chile, an reaktionäre Kulturpolitik, an Zero Tolerance und an Leute wie Amadou Diallo. Mit 41 Schüssen wurde der westafrikanische Einwanderer bei einer Routinekontrolle durchsiebt. Vier weiße New York City Cops hatten die Brieftasche in seiner Hand für eine Pistole gehalten.
Weil nach 9/11 nichts mehr ist wie vorher, wird das Vorher getilgt. Bei den MTV-Awards in New York begrüßt die Latina-New-Yorkerin Jennifer Lopez den Italo-New-Yorker Rudolph Giuliani wie den Pat(riarch)en von Metropolis. Als Triumphmarsch dient ein alter Song von einer linken Punkband über englische Rude Boys: „Rudie can’t fail“ von The Clash. Ein schöner MTV-Coup der Umwidmung & Auslöschung.
Klaus Walter lebt als freier Autor in Frankfurt/Main.
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