: US-Helden und Eurowürstchen
Ein Jahr nach den Terroranschlägen von 2001 trauert Amerika – und inszeniert sich dabei mehr denn je als auserwählte Nation. Die Einbindung in internationale Strukturen passt da nicht ins Konzept. Die USA wollen allein bestimmen, wo, wann und gegen wen sie in den Krieg ziehen werden
aus New York ANDREA BÖHM
Es wird heute an der Ketchum Elementary School in Washington eine Andacht geben, Fahnen und natürlich ein Foto von Rodney Dickens mit seinen runden Wangen. Überhaupt hatte er reichlich Babyspeck auf den Rippen. Zu viel Junkfood, zu wenig Bewegung. In Anacostia, Washingtons Stadtviertel mit den schlechtesten Adressen, wissen die Mütter ihre Söhne lieber auf der Couch als auf der Straße, weshalb Rodney, elf Jahre alt, seine Freizeit vor dem Fernseher verbrachte und Wrestling-Kämpfe anschaute.
Seine Noten waren gut gewesen, so gut, dass er seine Schule auf einer Forschungsreise nach Kalifornien vertreten durfte. Abflug am Morgen des 11. September mit American Airlines, Flugnummer 77, jene Maschine, die kurz darauf auf das Pentagon stürzte. Sie werden an der Ketchum Elementary School heute für Rodney beten, für ihr Land und ihre Soldaten, vielleicht auch einen Aufsatz über Amerika und den Terrorismus deklamieren, den der New York Times-Kolumnist Thomas Friedman allen Schülern zum ersten Jahrestag des Terroranschlag als Lektüre empfohlen hat. „Wir sind gut, sie sind böse. Nichts ist relativ“, heißt es da. „Fakt ist: trotz Fehlern und Schnitzern ist dieses Land in der Geschichte der Menschheit das größte Leuchtfeuer der Freiheit, der Wohltätigkeit, der Chancen und der Liebe – und wird es immer bleiben. Würden auf Erden alle Grenzen geöffnet, wäre der Rest der Welt nach einem halben Tag eine Geisterstadt.“
Krieg ist Alltag geworden
Fragt man nach der Befindlichkeit des Landes ein Jahr danach, so gibt es mehrere Antworten: es trauert und inszeniert sich dabei mehr denn je als auserwählte Nation; es macht sich auf den nächsten Anschlag gefasst und will doch am Mythos der Unverwundbarkeit festhalten; es praktiziert normalen Alltag und befindet sich gleichzeitig im Krieg. Konservative Kommentatoren wie der ehemalige Bildungsminister William Bennett sehen darin den moralischen Aufwärtstrend einer Nation, die vor dem 11. September auseinander zu driften drohte. Linksliberale Intellektuelle wie die Schriftstellerin Erica Jong schreiben in der Zeit von einer „Orgie des sentimentalen Patriotismus“, der jedes kritische Denkvermögen zum Opfer gefallen sei.
Sie haben – jede/r auf seine Weise – Recht. Kriegszeiten mit ihrer „Gut-gegen-Böse“-Rhetorik beschleunigen die Integration von Immigranten und Minderheiten im Einwanderungsland USA. Gleichzeitig machen sie blind für Entwicklungen im Rest der Welt.
Es gibt in den USA als Folge des 11. September sehr wohl eine politische Strömung, die sich dieser „Dialektik“ entziehen will, ohne die Solidarität mit dem eigenen Land aufzukündigen. Man kann diesen Ansatz als „säkularen Multilateralismus“ bezeichnen. In den Anfängen der Clinton-Administration waren davon Ansätze zu erkennen. Dieses Denken beruht auf der Einsicht, dass die Supermacht nicht auf ihre Vormachtstellung, wohl aber auf ihren quasi religiösen Anspruch als auserwählte Nation verzichtet. Der 11. September hat auf brutale Weise gezeigt, dass keine manifest destiny, keine göttliche Vorsehung Unverwundbarkeit garantiert; dass die USA nur unter Einhaltung internationaler Rechtsnormen effektiv gegen Terrorismus vorgehen können; dass auch sie sich nicht gegen Spätfolgen eigener politischer Sünden abschotten können, sondern auf Gedeih und Verderb in diese Welt verwoben sind.
Damit sind nicht jene Kommentare gemeint, die nach dem 11. September mit einem „Geschieht-euch-recht“ zwischen den Zeilen die Toten des World Trade Centers gegen Vietnam aufrechneten oder al-Qaida zu den Maschinenstürmern der Globalisierung erhoben. Gemeint ist die Petro-Allianz mit Saudi-Arabien, das mit seinen Öleinnahmen aus dem Westen den Export eines antiwestlichen religiösen Fanatismus finanziert. Gemeint ist die amerikanische Aufrüstung islamischer Fundamentalisten vor 20 Jahren in Afghanistan.
Nur wenige zweifeln
Solche Debatten werden geführt, solche Töne kann man hören – manchmal an unvermuteten Orten wie Veteranenlokalen oder Baptistenkirchen, vor allem aber in Universitäten, in einigen Think Tanks, im Spektrum der Bürgerrechtsgruppen und Globalisierungskritiker. Es sind die usual suspects, die nach dem 11. September selten vor die Kamera gebeten worden sind – und wenn, dann mit einer „Vorsicht! Gift!“-Warnung. Die indische Schriftstellerin Arundhati Roy bekam als kritische Stimme aus dem Ausland einen Auftritt in der ABC-Sendung „Nightline“ zugebilligt und wurde den Zuschauern mit den Worten vorgestellt: „Vielen von Ihnen wird es nicht passen, was heute Abend hier gesagt wird. Sie müssen nicht zuhören.“
Folglich wurde die politisch und psychologisch dominierende Lesart der Anschläge vom 11. September zumindest in der medialen Öffentlichkeit kaum in Zweifel gezogen. Danach hat al-Qaida nicht nur das World Trade Center und das Pentagon angegriffen, sondern sich auch am Mythos der amerikanischen Unverwundbarkeit vergangen. Aus dieser Sicht habe am 11. September 2001 nicht nur ein Terroranschlag stattgefunden, schreibt Harper’s Magazine in einem Essay zum ersten Jahrestag. „Es war auch ein metaphysischer Landfriedensbruch“. Den massenhaften Tod von fremder Hand und Trümmerbilder wie aus einem Krieg „hatten wir bislang unter der Rubrik verbucht: ‚Schlimme Sachen, die Leuten passieren, die nicht Amerikaner sind‘ “.
Rasante Entfremdung
Seit dem 11. September ist der Mythos zerstört. Das ist neben dem Massenmord an sich der erschwerende Tatbestand, der nach herrschender Meinung einen „Krieg gegen das Böse“ legitimiert – einen Krieg, in dem die USA Ort, Zeit und Konditionen zu bestimmen glauben.
Daraus folgt zwangsläufig eine Außenpolitik, die sich gegen die Einbindung in internationale Strukturen sperrt. EU und UNO mögen weiterhin ihr Projekt der Verrechtlichung internationaler Beziehungen pflegen. Die USA setzen sich jetzt erst recht über „einengende“ Instrumente wie Genfer Konventionen, ABM-Vertrag, internationales Strafgericht oder auch die Ächtung vorweggenommener Militärschläge hinweg. Nach innen beruft sich die Bush-Regierung auf die Wiederherstellung der Unverwundbarkeit des eigenen Landes, nach außen auf moralisch hehre Absichten. Das ist der Kern der rasanten Entfremdung zwischen Europa und den USA, die in Washington neuerdings mit dem saloppen Motto beschrieben wird: „Amerikaner kommen vom Mars, Europäer von der Venus“ – eine Anspielung auf den Bestseller über das Unverständnis zwischen den Männern und Frauen. Die geschlechtliche Zuordnung ist keineswegs zufällig. Auf dem Mars wird gehandelt – wenn es sein muss, mit militärischer Gewalt; auf der Venus wird palavert, genörgelt und gejammert. Amerikaner schaffen Fakten, Europäer Paragrafen. Aus der Sicht Washingtons, schrieb unlängst der britische Economist, gebe es im „Krieg gegen das Böse“ nur zwei Rollen: „warriors or wimps“, „Krieger oder Waschlappen“, „amerikanische Helden“ oder „Eurowürstchen“.
Mit der Aberkennung der Männlichkeit hat auch zu rechnen, wer gegen die Innenpolitik seit dem 11. September opponiert. Zu den „Wimps“ zählen Anwälte und Bürgerrechtler, die gegen Militärtribunale und Antiterrorgesetze protestieren. „Warriors“ sind die Sicherheitsexperten in den Talkshows, die darüber streiten, welcher verbündete Polizeistaat im amerikanischen Auftrag Al-Qaida-Verdächtige foltern soll. Ägypten, Marokko, Türkei?
Dieser politische Machismo lähmt bislang nicht nur öffentlichen Dissens. Er kaschiert auch die Hilflosigkeit nach fast einem Jahr „Krieg gegen das Böse“. Afghanistan hat nach der Entmachtung der Taliban eine fragile Hoffnung auf Wiederaufbau – allerdings um den Preis vermutlich mehrerer tausend toter Zivilisten. Es ist aber genau so gut möglich, dass sich bald in bösen Ernst verwandelt, was David Letterman kurz nach Kriegsbeginn in seiner Talkshow als zynische Pointe servierte: „Kennen Sie die Nordallianz? Das sind die, die wir nächstes Jahr bombardieren.“
Schach auf drei Ebenen
Das eigentliche Ziel aber – die Zerstörung von al-Qaida – liegt in weiter Ferne. Ussama Bin Laden ist vermutlich am Leben, Teile des Netzwerks sind offenbar nach Pakistan und in den Libanon ausgewichen, finanziell verfügt die Terrororganisation laut UNO weiterhin „über genug Ressourcen, um in vielen Teilen der Welt zu operieren“. Die Bombenangriffe haben ihre Aktivitäten verlangsamt, was an sich schon ein Erfolg ist, aber das Problem nicht löst.
Joseph Nye, Rektor der Kennedy School of Government an der Harvard-Universität, vergleicht die internationale Politik des 21. Jahrhunderts mit einem dreidimensionalen Schachspiel. Darin gibt es neben der militärischen Ebene eine ökonomische und schließlich die Ebene der unzähligen grenzüberschreitenden nichtstaatlichen Aktivitäten: Wanderungsbewegungen, Kapitalflüsse, Kommunikationssysteme, Schmuggel, Terrorismus. Die derzeit dominierende Fraktion innerhalb der Bush-Regierung, sagt Nye, verstünde dieses Schachspiel nur auf der ersten Ebene, der militärischen. Amerikanische Hegemonie, die Nye an sich nicht in Frage stellt, sei für diesen Flügel vor allem eine Frage der Feuerkraft. So entspringt der offenbar unausweichliche Krieg gegen den Irak rückständigem politischen Denken. Die eigentliche Bedrohung ist eine Terrororganisation, die eher wie ein multinationaler Konzern als eine Armee operiert und der man nur durch globale Kooperation beikommt – vor allem auf der dritten Ebene von Nye’s Schachspiel. Weil die USA sich dieser Ebene radikaler denn je verweigern, haben sie Donald Rumsfelds altes Konzept von den „Schurkenstaaten“ wieder aus der Schublade geholt. Diese Administration will, wie sie in erfrischender Ehrlichkeit selbst zugegeben hat, einen latenten oder offenen Kriegszustand bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen. Also „baut“ sich Washington seine Gegner von morgen nach der Maßgabe der Kriege von gestern. Next stop Bagdad – endlich wieder ein Feind mit fester Adresse und eigener Nationalhymne.
Nun bestreitet niemand, dass Saddam Husseins Sturz ein Segen wäre für die Iraker und für die gesamte Region. Womöglich erfolgt der Sieg für die USA, ähnlich wie in Afghanistan, viel schneller und leichter, als Skeptiker und Apokalyptiker glauben. Als Gegner eines Militärschlags ist man jedenfalls gut beraten, außer Kritik an Washington auch ein paar konstruktive Vorschläge zur Entmachtung Saddams zu machen. Aber Fakt ist: Mit einem vorweggenommenen Schlag gegen Irak wechseln die USA vollkommen von einer Herrschaft des internationalen Rechts zu einer militärischen Machtpolitik mit moralischem Anspruch.
Es mutet schon fast ironisch an, dass die Bush-Regierung, während sie einen Verbündeten nach dem anderen verprellt, Experten aus dem In- und Ausland einlädt, die ihr die Wurzeln antiamerikanischer Gefühle in der Welt erklären sollen.
Vielleicht erläutert einer der Geladenen, dass knallharte Hegemonialpolitik weniger Schaden anrichtet, wenn sie nicht im moralischen Gewand von „Gut“ und „Böse“ daherkommt. Dass Saddam Hussein sein Volk knechtet, auspresst, mit Folter und Giftgas traktiert, zitieren Regierungssprecher in Washington derzeit mit imbrünstiger Empörung – als hätten sie gestern zum ersten Mal den Jahresbericht von amnesty international gelesen. Mit keinem Wort erwähnen sie, dass Präsident Ronald Reagan dem Irak im ersten Golfkrieg mit Rüstungshilfe, Ausbildern und militärischer Aufklärung beiseite stand, als Saddam Hussein Nerven- und Senfgas (zusammengebraut unter anderem aus deutschen Exporten) gegen iranische Soldaten und schließlich gegen Kurden in Halabja einsetzte. Damals verhinderte das Weiße Haus Sanktionen des US-Kongresses gegen den Irak. Denn Saddam war, so die Redensart in Washington, „a son of a bitch, but our son of a bitch“. Ein Hurensohn, der dafür sorgen sollte, dass das Ajatollah-Regime im Iran nicht zu mächtig und womöglich die Versorgung mit Erdöl beeinträchtigen würde.
Sucht nach Erdöl
Als im Februar in den USA das Football-Endspiel, der Superbowl, zu einem gigantischen patriotischen Spektakel im Gedenken an den 11. September verwandelt wurde, kaufte auch das Bundesbüro zur Drogenbekämpfung Werbezeit und verkündete: „Wer Drogen kauft, finanziert den Terrorismus.“
Ein paar Tage später fragte die linke Wochenzeitung The Nation, warum es noch keine Kampagne gegen eine andere amerikanische Sucht gebe, die den Terrorismus viel stärker finanziert habe: die Sucht nach Erdöl, aus dessen Erlösen die saudische Elite nicht nur ihren eigenen Reichtum finanzierte, sondern auch die Taliban, die Madrassas in Pakistan und ab und an offenbar auch das Netzwerk von Ussama Bin Laden. Die USA stellen fünf Prozent der Weltbevölkerung und verbrauchen fast ein Drittel der weltweiten Erdölfördermengen. Die Allianz mit Saudi-Arabien gerät langsam ins Wanken, doch die Sucht nach Erdöl hält unvermindert an, „weil wir“, wie The Nation schreibt, „eine Gesellschaft von Geländewagen-Patrioten sind“. Die USA haben alternative Quellen zum arabischen Öl entdeckt: am Kaspischen Meer. Im Rahmen des „Kriegs gegen den Terrorismus“ entstehen dort erste US-Militärbasen und engste Beziehungen zu Staaten wie Usbekistan, dessen Regime im Jahresbericht von amnesty international immerhin sieben Seiten füllt. Wer die Geschichte der amerikanischen Politik im Mittleren Osten kennt, dem kommt das alles sehr bekannt vor.
Der beste Weltenbürger
Es sei der Fairness halber gesagt, dass Thomas Friedman, der in der New York Times Amerikas Schülern Lesestoff und Lehren zum 11. September empfiehlt, dieses Thema anspricht: „Lektion 3: Warum mögen so viele Menschen die USA nicht, obwohl sie die Terroristen vom 11. September verurteilen? Weil alle mit uns gegen den Terrorismus kämpfen sollen, damit wir weiter beliebig viel Energie verbrauchen, wir aber nicht mit den anderen gegen Klimaerwärmung kämpfen wollen. Und wenn wir deren Respekt gewinnen wollen, müssen wir die besten Weltenbürger sein.“ So klingt amerikanische Hegemonie schon ganz anders. Für einen echten Geländewagen-Patrioten sind solche Töne allerdings antiamerikanisch.
ANDREA BÖHM, 42, lebt und arbeitet im amerikanischen Bundesstaat New York
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