Treuhänder der Erinnerung

In der Biografie „Castorf. Provokation als Prinzip“ zeigt der Theaterkritiker Robin Detje, dass der Erfolg des Regisseurs auf einem Missverständnis beruht – und das ist ausgesprochen produktiv

von KATRIN BETTINA MÜLLER

In seinem Buch „Castorf. Provokation aus Prinzip“ erzählt der Theaterkritiker Robin Detje die Geschichte eines Regisseurs und zweier Länder – der alten DDR und der neuen Bundesrepublik. Auf der Couch des Analytikers Detje liegen die Rezeptionsweisen in Ost und West – von der Aufzeichnungen der Staatssicherheit über Rezensionen bis zu den Reaktionen der Politik – mindestens ebenso oft wie Frank Castorf selbst mit seinen Auffälligkeiten. Hysterische Organisationsformen und Verdrängungsleistungen auf beiden Seiten auszumachen, dieses Vergnügen teilt der Autor Detje großzügig mit seinen Lesern.

Das Theater der Berliner Volksbühne hat in der Nachwendegeschichte mit Frank Castorf als Intendanten und Regisseur eine exemplarische Bedeutung als Suchmaschine für eine neue Identität erhalten. Das macht den Rückblick so spannend auf den Weg eines Künstlers, der immer alles andere als repräsentativ sein wollte. Sein Erfolg beruht auf einem Missverständnis – und das ist äußerst produktiv. Denn bevor man zu Castorf auf die Bühne darf, lädt Detje in einem großartigen Prolog in das Wohnzimmer seiner Eltern ein: „Weißt du noch?, sagt die Mutter. Er hat schon als Kind so gern gelesen! Der Vater, ungeduldig: Du hättest früher nicht so viel Dostojewski lesen sollen. Das macht depressiv.“

In den ungestillten Wünschen der Eltern nach großbürgerlicher Bildung und unternehmerischer Freiheit legt Detje im ersten der neun chronologischen Kapitel eine Quelle frei für das, was der Sohn, der bis heute in der ehemaligen Wohnung der Großmutter über ihnen lebt, auf dem Theater erschafft.

Das Beharren auf privatem Glück aber schon als politische Opposition zu begreifen, wie es die strenge Beobachtung Castorfs an Kleinstadttheatern in der DDR dokumentiert, war das erste Missverständnis, das zum Erfolg des Regisseurs beigetragen hat. Er hat den einmal erworbenen Ruf immer zu nutzen verstanden, ohne darin zu erstarren. In der Nachwendezeit, das schält Detje aus Kritiken und Interviews heraus, gehört es zu Castorfs Kapital, von den Westlern nicht verstanden zu werden. Das erhöht seine Glaubwürdigkeit. Er wird zu einem Treuhänder der Erinnerung an den Osten.

Vielen Künstlern, Schriftstellern und Theatermachern aus dem Osten hat man in der Nachwendezeit unterstellt, mit der Gegnerschaft zum offiziellen Kurs der Kulturpolitik auch die Kraft ihrer Motivation eingebüßt zu haben. Diesem Verdacht ist auch Castorf ausgesetzt. Aber als Experte für Geschichten der Verdrängungen, ob sie nun im privaten Grund von Sexualität und Familie wurzeln oder in der kollektiven Erinnerung eines ganzen Staats an seine Träume und Ideologien, ist ihm mit dem Untergang der DDR ein ungeheures Potenzial zugewachsen wie ein privater Nachlass. Das gibt der Diskussion um den Erbebegriff einen völlig neuen Anstrich. Denn zwei Jahrzehnte schon verfolgt nun Castorf der Vorwurf eines „Stückezertrümmerers“, der Texte und Dichter so wenig achtet wie Strömungen des Zeitgeistes, um stattdessen immer nur von sich zu erzählen. Er füttert diese Meinung gar mit markigen Worten „Das Konzept bin ich“, von Detje oft und gern wiederholt. Und plötzlich stellt sich heraus, dass dieses „Ich“ sehr großzügig und weitläufig gebaut ist und Platz für viele hat.

Zum Beispiel für alle, die sich von den Geschichten der Avantgarden affizieren lassen, von den Surrealisten und ihren Glaubenskriegen bis zu Rainer Werner Fassbinder, mit ihrem ganzen Zwiespalt von Rausch, Befreiung, Entgrenzung und Gewaltfantasien bis zum Kippen in den autoritären Größenwahn. Und selbst für die, deren Bekenntnis zu dieser Geschichte über ein kollektives Besäufnis nie hinausgekommen ist, hat Castorf ein Herz. Dieses gepflegt antiautoritäre Spielen mit Dingen, die die sonst sorgfältig bewachten Grenzen zwischen kleinbürgerlichen Sehnsüchten nach Geborgenheit und anarchistischem Ausbruchsfantasien immer wieder auf waghalsige Weise überqueren, hat ihm übrigens Anfang der Neunzigerjahre die taz, von Detje ausführlich zitiert, besonders übel genommen. Auch Schmuddelkinder fremdeln, besonders wenn da einer so schlau sein will wie man selbst und die eigenen Eltern zusammen.

In einer Hinsicht begründet Detjes Buch die Notwendigkeit, Theatergeschichte festzuhalten, aus sich selbst. Theater ist fragil und wird umso weniger nacherzählbar, je mehr es sich den Kategorien der Performance, der Pausen, der Rhythmisierung, des Choreografischen und einem prozessualen Kunstkonzept anvertraut. Dieses Sichentziehen dennoch zu beschreiben zu versuchen aber lohnt sich, weil in diesem Handwerk die sinnliche Qualität der Theaterarbeit sichtbar wird. Wie er Probenprozesse organisiert, wie er das Verhältnis Rolle und Schauspieler zur Disposition stellt, darin liegt nach wie vor das Abweichende der Theaterarbeit von Castorf und seiner über lange Jahre zusammengewachsenen Theaterfamilie. Detje bleibt für die 80er-Jahre in der DDR oft nichts anderes übrig, als aus den vorhandenen Rezensionen einen Eindruck des Stücks zu rekonstruieren, und manchmal wünscht man sich die Beschreibungen und Nacherzählungen ausführlicher.

Robin Detje: „Castorf. Provokation als Prinzip“. Henschel Verlag, Berlin, 272 Seiten, 19,90 €