Deutschlands weite Felder

Wie man Äpfel mit Birnen und Literatur mit Politik vergleicht: Michael Jürgs möchte in seiner gerade erschienenen Biografie lieber über den „Bürger“ Günter Grass schreiben als über den Schriftsteller

von JÜRGEN BUSCHE

Seinen klügsten Einfall hatte Michael Jürgs, als er seine „Biografie eines deutschen Dichters“ so anlegte, dass darin der „Bürger Grass“ die Hauptsache ist. So konnte er eine glückliche Geschichte erzählen. Der Stil des Autors ist Begeisterung pur. Nichts vermag ihn zu irritieren. Mit Grass weiß er sich eins, was den Besitz der Personalausweise angeht, und so billigt er gern dem Dichter zu, was ihn selber ziert. In seinem Buch „Mein Jahrhundert“, schreibt Jürgs etwa, „hat sich Grass etwas wahnsinnig Gutes einfallen lassen“. Glücklich der, dem das gelingt. Hier sind zwei Glückliche aufeinander getroffen.

Was das Buch auszeichnet, ist die Tatsache, dass Jürgs Recht hat mit seinem Bild von Günter Grass. Grass „wünschte“ früh schon – um es mit den Worten Theodor Mommsens zu sagen – „ein Bürger zu sein“. Aber anders als Mommsen, dem ersten deutschen Literaturnobelpreisträger, konnte ihm das gelingen. Schon gleich nach dem Krieg wurde der Dichter in einem niedersächsischen Kalibergwerk von den Vorzügen der Sozialdemokratie überzeugt und schon 23 Jahre später wird sein Freund Willy Brandt Bundeskanzler. Grass hatte seinen Anteil daran. Jürgs lässt seine Leser mitfiebern, wie das damals zuging, als Bundeskanzler Erhard von der CDU die Schriftsteller als Pinscher und Banausen beschimpfte. Ja, es war eine schlimme Zeit.

Aber Grass blieb Sieger, auch als Brandt zurücktreten musste und Helmut Schmidt für lange Zeit wieder der letzte SPD-Kanzler gewesen war. Es kam ja ein neuer. Und das ist die Genugtuung der späten Jahre: „Ausgerechnet dem von ihm skeptisch beäugten Schröder, den der Bildhauer von allen Seiten prüft wie eine Skulptur, die er gerade formt, wird es als Bundeskanzler gelingen, wenigstens von Ernstfall zu Ernstfall, selten mal zu heiterem Anlass, Geist und Macht bei sich am Tisch zu vereinen.“ – Als Steinmetz, als Bildhauerschüler an der Düsseldorfer Kunstakademie hatte Grass angefangen. Auch aus jener Zeit weiß Jürgs anschaulich zu erzählen. Und überaus munter.

Die Munterkeit verlässt diesen Biografen nie, und auch in schwierigen Situationen weiß Jürgs sich zu helfen. Als der Bremer Senat 1960 die Zustimmung zur Entscheidung der Jury verweigert, Grass den Bremer Literaturpreis zu verleihen, da erscheint die alte Hansestadt jäh als kommunales Phänomen jenseits aller Parteipolitik. Jürgs mag es sich, seinen Lesern, vor allem aber wohl dem verehrten Gegenstand seines Werkes nicht zumuten, hier zu lesen, dass es ein sozialdemokratischer Senat war, der Skandal macht.

Ähnlich rücksichtsvoll verfährt Jürgs bei der Mitteilung einer anderen historisch peinlichen Szene. Da Grass literarisch ein Ziehkind der Gruppe 47 ist, darf auf sie kein Schatten fallen. Zur Person Paul Celans, der seinerzeit Grass bei der Abfassung der „Blechtrommel“ etwas geholfen hatte, heißt es bei Jürgs: „Als er zum ersten und einzigen Mal 1952 bei der Gruppe 47 auftrat, die Emigranten wie ihm eine geistige Heimat im Land der Mörder bot, hatte er zwar bei Ingeborg Bachmann Erfolg, seine Lesung aber versank im ehrfürchtigen Schweigen.“ Mit dieser von Jürgs entdeckten Ehrfurcht verhielt es sich so, dass andere sich erinnern, man habe gesagt: Der liest ja wie Goebbels. Auch Celan berichtet im Brief an seine Frau etwas anders von der Lesung und der besagten „geistigen Heimat“, die ihm die Gruppe bot: „Jene also, die die Poesie nicht mögen – sie waren in der Mehrzahl –, lehnten sich auf.“

Gleichviel: Jürgs treibt nicht Philologie, sondern Bürgerkunde. Ihn interessiert nicht, was dem Dichter literarisch auf dem Weg von der „Blechtrommel“ zu dem Roman „Unkenrufe“ passierte, von „Katz und Maus“ zu „Krebsgang“ – er verfolgt die Karriere des Schriftstellers wie die aktive Laufbahn eines Sportlers, jede Passage ist auf den Augenblick des Triumphs hin geschrieben. Jürgs erwähnt die Rezensenten, die Grass Buch um Buch brutaler zerfetzen. Unerwähnt bleiben jene Kritiker, die an der Entscheidung des Bestsellerautors leiden, lieber ein guter Bürger als ein guter Schriftsteller zu sein.

Es hat nach 1945 lange Zeit keinen begabteren Schriftsteller gegeben als Grass. Aber keiner in seiner Zeit hat sich von den Forderungen seiner Begabung so frei gemacht wie Grass. – Von alledem hält sich der Biograf des Bürgers fern. Daran hat er gut getan. Grass ist der seltene Fall eines Autors von Graden, der gleichwohl hohe Auflagenzahlen erreicht, also mutmaßlich sehr viele Leser hat. Es ist gut und nützlich, die über das Leben des Dichters zu unterrichten, der beispielhaft vieles getan hat, was den Lesern als Bürger imponieren muss. Jürgs leistet dies mit einem Buch, das ebenfalls viele Leser finden kann und die wenigsten von ihnen enttäuschen wird.

Michael Jürgs: „Bürger Grass. Biografie eines deutschen Dichters“. Bertelsmann, München 2002, 400 S., 24,90 €