Ulk und Katzenjammer

Komödie konsequent zum Trauerspiel gemacht: Jan Bosses Inszenierung von „Der Menschenfeind“ von Molière/ Strauß eröffnet die neue Schauspielhaus-Saison

von KARIN LIEBE

Seltsame Haarteile tragen die Herren. Nicht nur auf dem Kopf wuchern üppige Perücken, auch an den Schultern hängen die künstlichen Haarschöpfe wie flaumige Kuscheltierchen herab – bei dem geckenhaftesten sogar am Arsch. Die Gefall- und Verstellsucht, die Maskenhaftigkeit einer höfischen Gesellschaft drückt Regisseur Jan Bosse in solch prägnanten Bildern aus.

Doch seine Version von Molières 1666 uraufgeführtem Menschenfeind, die auf der modernisierten Fassung von Botho Strauß beruht, ist trotzdem keine klamaukhafte Komödie geworden. Bosse würzt nur sparsam mit Situationskomik und Slapstick, in seiner sehr ernsthaften Inszenierung konzentriert er sich umso mehr auf die Kraft der Sprache. Mit dem Ergebnis, dass viel, manchmal allzu viel geredet wird.

Allen voran Alceste (Edgar Selge): Er hasst jede Form von Schleimerei, Schmeichelei und Intrigen, er verabscheut Heuchelei und Lügen – und hält lange Monologe über die Unzulänglichkeit der menschlichen Natur. Edgar Selge gibt diesen Prototyp des überzeugten Misanthropen als Mischung aus asketisch-strengem Moralisten und despotisch-aufbrausendem Choleriker. Mal watscht er den schlechten Dichter Oronte (Samuel Weiss) mit erhobenem Zeigefinger und einem an den „Kritikerpapst“ Marcel Reich-Ranicki erinnernden Tonfall ab, mal brüllt er „Aufhören!“ ins gedämpft spielende Orchester. Auf der schrägen, mit rotem Teppich bezogenen Bühne steht er zunächst sehr aufrecht und sehr allein da. Doch an den Rändern lauern schon die gesellschaftlich Angepassten.

Unaufhörlich klagt Alceste die Schleimer und Schmeichler an. Aufrichtigkeit ist sein Credo, gekleidet ist er von Kopf bis Fuß in ernsthaftes Schwarz. Doch sein puscheliges Haarteil am Ärmel offenbart, dass auch er mit Schwächen behaftet ist. Denn Alceste liebt die schöne, scharfzüngige Witwe Célimène, die mit ihren vier Verehrern spielt, ohne ihrerseits auch nur einen wirklich zu lieben. Christiane von Poelnitz spielt die flatterhafte Salondame als unterkühlte Diva. Mit großer Selbstverständlichkeit benutzt sie einen ihrer Geliebten als Diwan, hingegossen wie eine Statue liegt sie da und blickt stolz und unnahbar ins Publikum.

Aber ihre Fassade bröckelt unaufhaltsam, bis sie auch ihr elegantes Abendkleid abstreift und halb nackt, von allen außer von Alceste verstoßen, in sich zusammensinkt. Alle entblättern sich bei Bosse ganz bildhaft. Oronte, der von Célimène heimlich verspottete „dicke Dichter“, zieht irgendwann den hellrosa Pulli mit Borte über den Kopf und entblößt die Kugelbauch-Attrappe mit Brusthaarperücke. Der schleimige Poet, köstlich ekelhaft von Samuel Weiss gespielt, zeigt sein wahres Gesicht ebenso wie sein eitler Nebenbuhler Clitandre (Ben Daniel Jöhnk). Der kokette Dandy feiert sich erst als unwiderstehlich, dann muss er eingestehen, ein echter Unglücksrabe zu sein.

Alle sind sie zum Schluss unglücklich und allein, nur der lebenskluge Philinte (Jörg Ratjen) gibt die aussichtslose Liebe zu Célimène auf und wendet sich der wiederum aussichtslos in den Menschenfeind verliebten Eliante (Mira Bartuschek) zu. Vernunft in der Liebe, das scheint also doch zu funktionieren. Zumindest in dieser Komödie über die Unzulänglichkeiten des Menschen, die in Bosses Inszenierung konsequent zum Trauerspiel wird.

Je mehr sich die Menschen entblößen, desto mehr füllt sich die Bühne mit Symbolen einer pervertierten Natur. Plötzlich wuchern üppige Pflanzen am Bühnenrand, dann fahren riesige Geweihe, ein Pfau und andere Tierfiguren von der Decke herab, ein viereckiger Kronleuchter schwebt herunter, ein pompöses Früchtearrangement erhebt sich aus dem Boden.

Doch all dieser kitschige, schreibunte Überfluss bietet niemandem Schutz vor verletzten Gefühlen. Allenfalls beim Singen dürfen sich die kranken Seelen Linderung verschaffen. Und das klingt ziemlich schrecklich: Selten hat man im Theater solch ein Katzengejammer gehört.

weitere Vorstellungen: 28.9., 4., 5., 12., 20. + 29.10., 9., 10., + 28.11., jeweils 20 Uhr, Schauspielhaus