normalzeit: HELMUT HÖGE über linke Bundestagskandidaten …
… und ihr gefährliches Leben
Der Ekelprotz Stoiber bedankte sich nach der Wahl „besonders“ bei den Polizisten, die ihn während des Wahlkampfes beschützt hatten und ihm „insbesondere“ im Osten so manches Mal geradezu das Leben gerettet hätten. Das war bestimmt gelogen. Wahr ist jedoch, dass die Rechten so blöd sind, dass sie nicht mal die einfachsten Parolen verstehen: So las ein Neonazi zum Beispiel aus dem Spruch „Erststimme für Ströbele“ die Aufforderung „Erstschlag“ heraus, was sich als die wohl unangenehmste Wahlhilfe für unseren grünen Grundsympathen erwies.
In solch eine scheußliche Situation während des Wahlkampfs geraten nicht viele Kandidaten. Ich kannte bisher nur den Agraringenieur Hanns-Peter Hartmann, den die Käufer des Treptower Batteriewerks Belfa als Betriebsratsvorsitzenden entlassen hatten. Dafür stellte die PDS ihn 1994 als Bundestagskandidaten auf.
Und er stellte sich dann mit einem PDS-Wahlkampftisch neben den Eingang eines Supermarkts in Treptow. Er hatte gerade einen Rentner davon überzeugt, ihn zu wählen, als drei vermummte Männer aus dem Supermarkt stürzten – und einen Moment stutzten angesichts des Wahlwerbetisches mit PDS-Luftballons neben ihnen. Der Rentner ging sogleich mutig auf sie zu, woraufhin er von einem der Männer erschossen wurde. Anschließend flüchteten die drei Gangster um die Ecke, wo ihr Wagen stand – und verschwanden. Hartmann gelangte später als Nachrücker von Stefan Heym in den Bundestag.
Und nun erwischte es seinen früheren Studienkollegen und besten Freund Siegfried Mattner aus Schmachtenhagen bei Oranienburg, der heuer für die PDS in Brandenburg kandidierte. Der frühere LPG-Vorsitzende und jetzige Kolchos-Geschäftsführer sowie Gründer des berühmten „Bauernmarktes“ ist ein derartig begnadeter Arbeitsplatzbeschaffer, dass die Phalanx seiner antikommunistischen Gegner geradezu unüberschaubar wurde.
Als Siegfried Mattner nach einer langen Parteisitzung am darauffolgenden Morgen länger als gewöhnlich schlief und seine Frau und seine Tochter schon aus dem Haus waren, klingelte es plötzlich an der Haustür. Als er öffnete, war jedoch niemand zu sehen. Er ging daraufhin unter die Dusche.
Da klingelte es wieder. Diesmal standen zwei Männer vor der Tür, die ihn sofort zurück ins Haus drängten und ihm eine Pistole an die Schläfe drückten. Er konnte nur noch den Schlüssel umdrehen, sodass die Tür angelehnt blieb. Dann begann der 60-jährige gelernte Melker und Judomeister sich zu wehren. Als Erstes ergriff er die Pistole, die daraufhin in eine Ecke flog. Dann bekam er aber von hinten einen Schlag mit einem schweren Gegenstand auf den Kopf und fing stark an zu bluten. Er drehte sich um und trat den Angreifer mit Füßen, wobei er sich zwei Zehen brach. Schließlich hielten die beiden Männer ihn an seinem Morgenmantel fest, er konnte sich aber losreißen und flüchtete nackend auf die Dorfstraße – laut um Hilfe schreiend. Eine Nachbarin rief sofort die Polizei und gab ihm eine Decke. Da erst merkte Mattner, dass er einem der Männer beim Gefecht die Gürteltasche abgerissen hatte, die er immer noch in der Hand hielt. Darin befand sich ein jugoslawischer Pass, ein Handy, ein Autoschlüssel und 500 Euro.
Die Polizei kam zwar schnell, aber die Gangster fand sie nicht. Es waren zwei Jugoslawen, sie hatten ihr geklautes Auto nahe dem S-Bahnhof abgestellt, bereits am nächsten Tag wurden sie in Berlin verhaftet. Siegfried Mattner musste erst einmal ins Krankenhaus, wo man seine Zehen schiente und die Kopfwunde vernähte. „Sie haben Glück gehabt, dass sie so schwer verletzt wurden“, meinten die Polizisten anschließend zu ihm, „sonst hätte ihnen keiner den Überfall geglaubt, jeder hätte das für Wahlwerbung gehalten.“
Die Mattners wohnen in einem typischen LPG-Haus, das genauso aussieht wie alle anderen – und noch nicht einmal am Dorfrand. Und die beiden Gangster kamen um 8 Uhr früh. Als sich Siegfried Mattner wieder etwas beruhigt hatte, fragte er sich: Warum gerade ich? Würden wütende Neonazis überhaupt zwei Jugoslawen beauftragen? Und kommt da jetzt noch was nach? Als er dann am Wahltag im Gegensatz zu Ströbele das Direktmandat verfehlte, beruhigte er sich jedoch langsam wieder. So, als ob die Gefahr dadurch geringer geworden sei.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen